Florian Langenscheidt: „Die Not ist größer geworden“

Der Verleger Florian Langenscheidt spricht im AZ-Interviewe über wachsende soziale Kälte, sein Kinderhilfswerk und die Äußerungen von Thilo Sarrazin.
von  Abendzeitung
Der Verleger Florian Langenscheidt und seine Lebensgefährtin Miriam Friedrich
Der Verleger Florian Langenscheidt und seine Lebensgefährtin Miriam Friedrich © dpa

Der Verleger Florian Langenscheidt spricht im AZ-Interviewe über wachsende soziale Kälte, sein Kinderhilfswerk und die Äußerungen von Thilo Sarrazin.

AZ: Herr Langenscheidt, bevor wir über das Jubiläum ihres Kinderhilfsvereins reden, müssen wir über Berlins ehemaligen Finanzsenator Thilo Sarrazin sprechen.

FLORIAN LANGENSCHEIDT: Ich war fassungslos, als ich sein Interview gelesen habe.

Sarrazin hat sich Gedanken über die soziale Unterschicht in Berlin gemacht – und kommt dabei zu folgender Ansicht: „Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel“...

Das zu sagen ist beleidigend, dumm und gefährlich. Sozialer Stand ist keine Frage von Herkunft. Unterschichten entstehen nicht durch Biologie.

Sondern?

Sie entstehen durch mangelnde Förderung im Elternhaus, durch schlechte Integrationspolitik, durch zu wenig Bildungschancen, durch eine ganze Reihe von Faktoren. Genetik gehört aber nicht dazu.

Sie haben vor 15 Jahren ihre Kinderhilfsorganisation gegründet. Wie kam es dazu?

Ich hab die Arbeit von anderen Kinderhilfsorganisationen immer bewundert. Aber mir fehlte das Einbeziehen von Jugendlichen in die Arbeit. Ich wollte Kindern eine Bühne bauen, ihnen helfen – aber zugleich sollen sie auch mitmachen. Das ist die DNA von „Children“.

Wie zeigt sich die?

Wir haben Kinderbeiräte bei uns eingeführt. 300 Kinder haben da seit 1994 schon mitgemacht in verschiedenen Städten. Die Jugendlichen bei uns verwalten keine riesigen Budgets, aber sie entscheiden, ob der Kindergarten auch wirklich die Ausstattung braucht. Da wird hart diskutiert.

Klingt schon sehr stolz...

Wissen Sie, ich bin vielleicht noch auf meine Kinder ähnlich stolz, aber sonst auf wenig. Wir haben damals mit 32 Mitgliedern angefangen und 320000 DM. Daraus sind bis 20 Millionen Euro geworden. Wie hat sich die Arbeit verändert über die Jahre?

Unsere Arbeit hat sich eigentlich nicht stark verändert. Wir wollen immer klein, unbürokratisch, schnell sein. Was sich verändert hat, ist die Situation in Deutschland.

Was meinen Sie damit?

Die soziale Situation im Land ist viel schlechter geworden.

Das sagt man gemeinhin...

Nein, wir bekommen das hautnah mit. Seit 2004 gibt es bei uns die Aktion „Hunger für Deutschland“. Wir verteilen da Mittagessen, unterstützen 30 Organisationen in 24 Städten, haben bis jetzt eine Millionen Mahlzeiten finanziert – und da merken wir: Es gibt immer mehr Kinder, denen fehlen ganz elementare Dinge.

Ein Beispiel, bitte.

Nun, denen sagt zum Beispiel keiner, wie man sich richtig anzieht, wie man sich ansieht, wenn man sich begrüßt, wie man sich bewirbt. Das ist erschreckend mitanzusehen.

Wie gerecht ist Deutschland?

Da muss man differenzieren. Einerseits gab es vor 15 Jahren keine Handys und kaum Internetnutzung. Heute hat fast jeder Zugang zu preiswerter Kommunikation. Das ist gut. Was ungerechter geworden ist in Deutschland, das sind Bildungschancen.

Inwiefern?

Bildung entscheidet zu einem großen Teil über das Leben, das jemand führt. Auf diesem Gebiet gibt es nicht wirklich Chancengleichheit. Alle Lehrer, mit denen ich rede, sagen, dass die Kluft zwischen Schülern, die daheim eine Förderung haben, und solchen, bei denen so etwas nicht stattfindet, extrem zugenommen hat.

Viel zu tun für Hilfsorganisationen...

Ja, aber das ist zuallererst eine gesellschaftliche, eine politische Aufgabe. Wir können da nur Not lindern – das aber wollen wir gerne tun.

Es gibt einige, die sagen: Der Herr Langenscheidt, das ist so ein Gutmensch...

Ach Gott, das lässt mich vollkommen kalt. Ich weiß, was ich will, ich weiß, dass ich helfen möchte. Das genügt mir.

Was steht als nächstes an?

Heute feiern wir unseren Geburtstag. Wir haben 350 Gäste eingeladen, es werden viele Jugendliche da sein. Und dann werden wir unser Projekt „Hunger in Deutschland“ vorantreiben. Jan Chaberny

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