Interview

Eine kleine Dosis Glück? Die Botox-Erfinderin Jean Carruthers im AZ-Gespräch

Durch einen Zufall hat die kanadische Augenärztin Botox für kosmetische Eingriffe erfunden. Im Interview erklärt sie die Abenteuergeschichte, den Widerstand und warum Botox vielleicht wirklich glücklich macht.
von  Adrian Prechtel
Nach der idealisierenden Klassik wurde im Hellenismus die Darstellung realistischer: Jean Carruthers neben der „trunkenen Alten“ in der Münchner Glyptothek.
Nach der idealisierenden Klassik wurde im Hellenismus die Darstellung realistischer: Jean Carruthers neben der „trunkenen Alten“ in der Münchner Glyptothek. © Bernd Wackerbauer

Die Michaelskirche wurde besucht, auch die Frauenkirche auf der Suche nach einem Orgelkonzert von Johann Sebastian Bach. Aber jetzt hat Direktor Florian Knauß erst einmal die Glyptothek am Königsplatz extra für den Ehrengast geöffnet und beginnt eine Privatführung für Jean Carruthers, zu der sie auch die Abendzeitung mitgenommen hat.

AZ: Mrs Carruthers, jetzt stehen wir vor der Aphrodite von Knidos, eines der bekanntesten Werke des Bildhauers Praxiteles. Und die Göttin ist – abgesehen von ihrem Gewand – natürlich faltenfrei schön, auch nach 2500 Jahren.
JEAN CARRUTHERS: Schönheitskult ist eine anthropologische Konstante. Ich habe schon vor zehn Jahren die Glyptothek mit meinem Mann Alistair besucht. Und jetzt, wieder in München, wollte ich unbedingt wieder hierher. Es ist eine Feier der Schönheit. Aber eben auch der Wahrheit. Denn angefangen haben wir ja bei der "trunkenen Alten" aus dem Hellenismus.

Hätte die sich über Botox gefreut?
Sicher. Und an ihrer Haartracht kann man ja auch sehen, dass sie eine wohlhabende Frau aus der High Society war. Heute wäre sie in meiner Praxis.

Was war der Schlüsselmoment, als Botox die kosmetische Bühne betrat?
Da muss man erst noch einmal einen Schritt zurückgehen: Es war mein Kollege, der Augenarzt Allen Scott, der herausfand, dass – wie er sagte -"ein tödliches Gift ein Wundermittel war für noch nicht begriffene Augenkrankheiten". Konkret hieß das, dass er ab 1977 und erweitert dann 1982 Augen- und Lidzuckungen, die ein normales Leben bisher unmöglich machten, mit dem von ihm gewonnenen Botulinum Toxin gestoppt hat. Er gewann diesen Stoff aus Sporen des Bakteriums Clostridium botulinum, die ein Nervengift hervorbrachten.

Die Münchner Hautärztin Luitgard Wiest brachte Botox nach Deutschland. Jetzt hat sie ihre kanadische Freundin Jean Carruthers (re.) zu einer Gartenparty eingeladen.
Die Münchner Hautärztin Luitgard Wiest brachte Botox nach Deutschland. Jetzt hat sie ihre kanadische Freundin Jean Carruthers (re.) zu einer Gartenparty eingeladen. © Claudia Borelli

Biologischer Kampfstoff, dann ging es ins Auge und unter die Haut

Ursprünglich war Botox aber ein militärisch gedachter biologischer Kampfstoff.
Ja, das Nervengift selbst war ursprünglich als biologisches Kampfgift in Fort Detrick in Maryland hergestellt und erforscht worden. Aber man hat festgestellt, dass es zwar tödlich wirkte, aber nur wenn man es injizierte. Zynisch gesagt: Es war nicht bomben- und massentauglich, sodass es militärisch uninteressant wurde. Aber an der Universität in Madison, Wisconsin, wurde Botox weiter für medizinische Forschung produziert.

Aber wodurch kam dann der Schritt in die Schönheitsbehandlung?
Ich selbst bin ja Ophthalmologin und habe die Methoden von Allen Scott eingesetzt. Und eine meiner Patientinnen war plötzlich wütend auf mich. Das war 1987. Normalerweise waren meine Patienten immer dankbar, weil ich sie von einem Dauerzucken oder Fehlstellungen der Augen befreien konnte, so dass sie plötzlich Autofahren durften, ja ein normales Leben führen und sich auf Familie und Kinder einlassen konnten, einfach Spaß am Leben bekamen. Also habe ich meiner Patientin, die sauer war, zugehört und gesagt: "Pardon, aber ich dachte, ich hätte Ihnen geholfen." Und sie sagte: "Als Sie mich behandelt haben, habe ich diesen dauerbesorgten Gesichtsausdruck verloren. Ich will, dass Sie mich weiterbehandeln!"

Eine wütende Patientin brachte den Durchbruch

Haben Sie gleich verstanden, was sie meinte?
Ja, nach kurzem Nachdenken. Ich bin dann nach Hause gefahren. Und ich war in der glücklichen Lage, einen Mann gehabt zu haben, der auch zuhört. Und ich habe gesagt: "Ich habe da vielleicht was für Dich! Eine Frau will, dass ich sie weiterspritze, weil dadurch ihre Zornesfalten zwischen den Augenbrauen weg sind." Und er war ja Dermatologe und hat aufgeregt gesagt: "Erzähl mir mehr!" Und so haben wir beschlossen, die ganze Sache genauer zu erforschen.

Leda und der Schwan: Zeus nähert sich der faltenlosen Schönen. Links: Jean Carruthers.
Leda und der Schwan: Zeus nähert sich der faltenlosen Schönen. Links: Jean Carruthers.

Da gibt es die etwas befremdende Geschichte, dass ihre erste Versuchsperson ihre Rezeptionistin war.
Ja, aber das war gar nicht so merkwürdig. Cathy hatte ja jahrelang mitbekommen, wie ich als Augenärztin Botox gespritzt habe, und alle glücklich waren, und nie was passiert war. Und sie sagte: "Klar!" Und sie hatte auch Stirnfalten.

Versuchskaninchen: Die Rezeptionistin und Carruthers selbst

Aber eine Testperson ist für eine Studie natürlich zu wenig.
Genau. Und es zog sich ewig hin, weitere zu finden. Denn wenn man jemanden sagt, ich spritze Ihnen ein schweres bakterielles Nervengift, wer sagt da "Hurrah"? Aber das Entscheidende ist ja immer die Dosis: Es geht um einen Nanogrammbereich, also um Milliardstel Gramm. "Dosis facit venenum", hat Paracelsus gesagt: Es kommt auf die Dosis an, ob etwas Gift ist. Und da habe ich zu meinem Mann gesagt: "Alastair, wir machen es bei mir. Das ist dann wirklich glaubwürdig." Und ich habe dann Vorher- und Nachher-Bilder von mir verwendet, um weitere Personen zu überzeugen.

Und die Wissenschaft und Kollegen, wie haben die reagiert?
Die haben alle gedacht, wir sind verrückt. Ich hatte meine Ergebnisse auch der American Society Dermatologic Surgery gegeben. Das war 1991. Die waren unter Schock. Andere sagten: "Wie kann man Leute vergiften, um Falten zu glätten?" Und bei einem frühen Vortrag vor der American Academy of Dermatology in Chicago habe ich Totenstille geerntet. Ich habe immer mehr wissenschaftlich veröffentlicht und die Aufregung hat sich mit der Zeit gelegt. Es gibt eben den Unterschied zwischen persönlicher Meinung oder Gefühl und Forschungsergebnissen.

Forschung: Glätte geht aufs Gehirn

Vielleicht ist das der größte Vorbehalt, dass man Medizinisches einsetzt, nicht um zu heilen, sondern kosmetisch. Ich habe immer weiter geforscht. Und da ist mir immer klarer geworden, dass es noch viel mehr positive Wirkungsebenen gibt als die Veränderung des Aussehens. Da ist natürlich erst einmal der naheliegende positive Effekt, dass die meisten sich einfach selbst besser gefallen nach einer Botox-Behandlung und auch von anderen ein positiveres Feedback bekommen. Aber der Effekt geht noch weit darüber hinaus.

Weil jemand, der sich selbst als schöner empfindet, auch zufriedener ist?
Ja, das ganz sicher. Aber das Fantastische ist, dass wir auch herausgefunden haben, dass es neben psychologischen Effekten auch physiologische gibt, die mit dem Gehirn zu tun haben. Wenn es einem schlecht geht, aber man beschließt zu lächeln, dann wird diese Veränderung dem Gehirn gemeldet und es interpretiert dann den Zustand als besser, sodass man sich wirklich besser fühlt.

Eine Art gehirntechnische "Self fulfilling Prophecy".
Ja, der Song von Charly Chaplin "Smile" hat jedenfalls recht. Aber es geht noch weiter: Das Gehirn speichert die Gesichtsmuskelentspannung als entspannten Zustand. So wirkt Botox nicht nur äußerlich und psychologisch, sondern wirklich physiologisch, also als Nervenzellen-Information im Gehirn. Wenn man das mitbedenkt, dann ist Botox eben mehr als Kosmetik oder Oberflächenbehandlung: Es ist ein echter Lebensverbesserer, ein echter Stimmungsverbesserer.

Die GSG 9 rückt den Stoff nicht raus

Und wie gelang der Sprung von Amerika nach Europa?
Das geschah über die Dermatologin Luitgard Wiest, die meine Freundin geworden ist und die ich gerade in München besuche. Die saß bei meinem Vortrag in Chicago im Publikum neben meinem Mann, die sind gleich ins Gespräch gekommen. Sie hat uns dann in Vancouver besucht, sich alles zeigen lassen, ist zurück nach Deutschland und hat Botox in den USA bestellt. Als das Päckchen am Münchner Flughafen ankam, wurde sie von der Antiterror-Spezialeinheit GSG 9 empfangen, hat sie mir erzählt. Sie bekam den Stoff erst ausgehändigt, als sie ihren Medizinerausweis vorgelegt hat.

Vor der Aphrodite: Die Kanadierin Jean Carruthers machte 1971 ihren medizinischen Abschluss und ging für ihre Facharztausbildung in Augenheilkunde nach San Francisco. Mit ihrem Mann Alistair, einem Hautarzt, forschte sie als erste ab Mitte der 80er-Jahre in Vancouver am Einsatz von Botulinumtoxin im kosmetischen Bereich
Vor der Aphrodite: Die Kanadierin Jean Carruthers machte 1971 ihren medizinischen Abschluss und ging für ihre Facharztausbildung in Augenheilkunde nach San Francisco. Mit ihrem Mann Alistair, einem Hautarzt, forschte sie als erste ab Mitte der 80er-Jahre in Vancouver am Einsatz von Botulinumtoxin im kosmetischen Bereich © Bernd Wackerbauer

Mittlerweile wird es ja weltweit hergestellt.
Und ich bin ein Fan des deutschen Produkts der Frankfurter Firma Merz Pharma, was wohl nichts mit Ihrem Kanzler zu tun hat. Deren Präparat Xeomin verteilt sich besonders gut nach der Injektion. Die Firma hat netterweise mir zu Ehren gerade ein Dinner im Künstlerhaus am Lenbachplatz gegeben. Überhaupt verdanken wir letztlich alles einem Deutschen. Ich war mal in Heidelberg im Uni-Archiv und habe mir Zeugnisse von Justinus Kerner geben lassen. Er hat – ohne genau über Bakterien Bescheid wissen zu können – schon 1822 die tödliche Lebensmittelvergiftung Botulismus beschrieben und bemerkt, dass das aus der Vergiftung entstehende "Fettgift" zu Muskellähmungen führt. Er hat das dann extrahiert und gegen Veitstanz und Epilepsie verabreicht. Und um klarzumachen, was echter Forschergeist ist: Kerner, nachdem auch die Weintraubensorte benannt ist, hat Sterbeprozesse so genau beobachtete, dass er auch etwas über die Ohrenschmalzproduktion nach dem Todeseintritt notiert hat. 

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