„Eigentlich bin ich romantisch!“

Feuchtgebiet München: Charlotte Roche liest aus ihrem skandalösen Ekel-Bestseller – und schockiert nicht, sondern verzaubert
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Sexpertin im Schulmädchen-Look: Charlotte Roche belehrt auf ihre Weise.
Klaus Primke Sexpertin im Schulmädchen-Look: Charlotte Roche belehrt auf ihre Weise.

Feuchtgebiet München: Charlotte Roche liest aus ihrem skandalösen Ekel-Bestseller – und schockiert nicht, sondern verzaubert

Die erste Überraschung: Es stinkt nicht. Null. Kein Schweißgeruch. Obwohl es voll und ausverkauft ist – und nur Fans von Charlotte Roch e (30), Deutschlands neue Vorzeige-Ekel-(S)Expertin, anwesend sind.

Feuchtgebiet München.

Sex, Schweiß, Stink- und Schweinesachen

Im Lustspielhaus, natürlich, sitzen die Anhänger der Anti-Schönheitswahn-Propaganda-Lektüre „Feuchtgebiete“ (seit 27 Wochen Platz 1, mehr als eine Million verkaufte Exemplare) schon Stunden vorher im pinken Schummer-Licht. Trinken Holunder-Prosecco und Bio-Weißwein und amüsieren sich.

Komisch: Alle schauen gepflegt aus, geschminkt und gestylt, niemandem hängen die Achselhaare aus dem T-Shirt raus. Die Mädels tragen hohe Schuhe, gelackte Fingernägel und schiefe Ponys, einige Lookalikes der Autorin sind auch da. Ebenso Schwangere, Rentner, attraktive Männer und junges Szene-Volk. Um Himmels Willen! Haben die etwa alle Buch gelesen? Das Buch, in dem es nur um Sex, Schweiß, Stink- und Schweinesachen geht. Nachhaltig geschockt oder traumatisiert scheint niemand. Das Publikum sieht propper aus – und erwartungsfreudig.

Ein braves Schulmädchen

Punkt 20.30 Uhr gehen Licht und Musik aus. Zwei Sekunden, dann werden der kleine Holztisch und der Stuhl auf der Bühne hell angestrahlt. Charlotte Roche kommt hinter dem Vorhang hervor. Lächelt, winkt – und wiegt ihr Bestseller-Buch wie ein Baby im Arm. Das Publikum jubelt.

Charlotte Roche sieht aus wie ein braves Schulmädchen. Wer bei ihrer Blümchenbluse an Blümchensex denkt, irrt gewaltig. Damit ja kein falscher Eindruck entsteht, sagt sie gleich mit lustig-schräger Stimme: „Ich bin gerne hier. Es ist heiß, man sitzt nah aneinander und schwitzt sich gegenseitig voll.“

Tabubrecherin

Womit wir beim Thema wären. Bevor Charlotte Roche aus ihrem Bäh-Bestseller liest, kokettiert sie zum Warm werden noch lauthals vor sich hin: „Das Buch hat mein Leben ruiniert. Wildfremde Paare quatschen mich nun ständig auf der Straße an und wollen Sex-Tipps. Auf ewig bin ich jetzt die Sexberaterin. Dabei bin ich die verklemmteste Person, die ich kenne. Ich sag’ dann immer, der Mann soll sich eine Pastinake in den Arsch stecken und die Frau soll versuchen, dranzukommen.“

Das Publikum lacht. Charlotte Roche lächelt. Ihr neuer Beruf – Tabubrecherin – scheint so einfach. Bei jedem „Arsch“- und „Muschi“-Wort grölt das Publikum wieder von vorne los. Sie macht das aber auch so irre nett. Als würde sie wie früher auf Viva Musikvideos anmoderieren. Nur dass es jetzt halt nicht um Robbie Williams, sondern um Hämorrhoiden geht. Was beim Lesen daheim noch so obszön und igittigitt klang, wirkt aus ihrem Mund wie charmante Satire.

"Also zurück zur. . . Muschi.“

Charlotte Roche liest und liest und lacht und liest. Tut so, als wäre ihr die Selbstbefriedigungsstelle mit dem Duschkopf peinlich. „Ist ja nicht so, dass ich Zuhause immer in meinem Buch lese“, erzählt sie. „Ich hatte drei Monate Pause und hab ganz vergessen, was ich da eigentlich geschrieben hab. Ich brauch’ erstmal ’n Schluck Wasser.“

Das Publikum grölt. Die Autorin lächelt zufrieden: „Wo war ich? Ach, ich bin ja gerade gekommen. Also zurück zur. . . Muschi.“

„Sind ja auch praktische Tipps für den Alltag hier“

Das Publikum ist nicht mehr zu bremsen. Tobt, applaudiert, schreit hysterisch. Ausnahmezustand. Nur ein paar ältere Gäste sitzen wie erstarrt mit offenem Mund da. Aber niemand rennt aus dem Raum. Charlotte Roche schockt nicht, sie verzaubert. Und hat selbst viel Spaß.

„Sind ja auch praktische Tipps für den Alltag hier“, kommentiert die Autorin die anschließende Enddarmreinigungs-Szene und lacht jetzt so laut wie das Publikum.

Tabubruch-Theater

Über eine Stunde geht das Tabubruch-Theater weiter. Charlotte Roche könnte alles vorlesen, das Publikum hängt an ihren schmalen Lippen. Sie verhaspelt sich kein einziges Mal. Im Gegenteil: verstellt die Stimme, gestikuliert, schauspielert, singt und schmatzt, wenn es passt. Dann klappt sie „Feuchtgebiete“ zu. Das Publikum darf Fragen stellen.

Ein etwa 30-Jähriger sagt, seit dem Buch hätte er Oralsex-Hemmungen. Charlotte Roche kennt das Problem: „Viele Männer sind nach dem Lesen schwul geworden.“

Dafür bedankt sich ein Mann Mitte 50: „Ich wusste nicht, dass Frauen Hämorrhoiden bekommen können.“

Spaß?

Die Motivation fürs Buch will er wissen. „Spaß“, gluckst Charlotte Roche. „Plopp, plopp – kamen die Ideen. Ich wollte alles kombinieren, was ich Zuhause nicht so mache. Furzen, Schleim, Schweiß, das ganze Programm.“

Im Übrigen sei das Buch wie eine Selbsttherapie gewesen: „Auch wenn es mir niemand mehr glaubt – ich habe viele Schamgefühle. Eigentlich bin ich romantisch. Aber es tat gut, mal alles auszukotzen.“

So fühlt sich auch das Publikum nach zwei Stunden Charlotte Roche. Gereinigt, sauber und frisch. Bereit für neue Schandtaten.

Kimberly Hoppe

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