Die Leber Münchens
Das Holy Home ist wie ein großes Zeltlager – nur ohne Volkslieder, aber mit gleich bleibend schlechtem Service auf hohem Niveau.
Das Protokoll einer langen Nacht im Holy Home, dem legendären Absturz-Schuppen in der Reichenbachstraße.
22.04 Uhr. Der Kneipenkorrespondent der AZ sitzt auf seinem Barhocker und nippt zum Einstieg an einem Wodka – pur, ohne Eis. Ausgeschenkt von einer stark tätowierten und sympathischen Bardame. Aus dem mächtigen Holzregal hinter der Theke schauen ihn viele Augen an: die Simpsons, eine Sigmund-Freud-Action-Figur und das Krümelmonster. John F. Kennedy wirft ihm aus seinem Bilderrahmen einen väterlich mahnenden Blick zu. Wer im Holy Home ist, taucht gleich in die hochprozentige Geschichte ein . . .
Einmal zum Beispiel dürfte es drei Uhr morgens gewesen sein, als ein Gast den schweren Kondomautomaten aus seiner Halterung riss, ihn von seinem Platz auf der Herrentoilette (kunstvoll verschmiert mit Abertausenden von Graffiti) in unmittelbarer Nähe zu den Pinkelbecken entfernte und sich mit seiner nützlichen Beute aus dem Staub machte. „Ich weiß, was Du getan hast!“, war das Erste, was er am nächsten Morgen las – als er schwer verkatert erwachte und die SMS auf dem Handy las. Keine drei Stunden später brachte er den Automaten reumütig zurück.
23.55 Uhr. So etwas gibt es nur hier, denkt sich der AZ-Kneipenkorrespondent und spült den vierten Wodka mit einem gut gezapften Bier herunter.
„Das Holy Home ist wie ein Zeltlager – nur ohne Volkslieder und Gitarre“, sagt Armin. „Es ist mein zweites Wohnzimmer“, sagt Anja. „Es ist schlicht und originell", sagt Sven. „Hier spielt die beste Musik", sagt Tom. „Das ist Kneipenanarchie", sagt Julia, „Das, das, ist . . ." - Jörg weiß nicht mehr, was er sagen wollte.
0.13 Uhr. Die Erkenntnis zum zweiten Bier: Hier kennt jeder jeden. Literaten (oder solche, die sich dafür halten), Künstler (oder solche, die sich dafür halten), Philosophen (oder solche, die sich dafür halten) und alle Sorten von Nachtschwärmern (die zu Recht behaupten können, welche zu sein) treffen sich in der bodenständigen Biertränke mit dem außergewöhnlichen Charme.
Das Holy ist ihnen so heilig wie sein Name. Der Laden platzt regelmäßig aus allen Nähten. Einen Platz in der Sofaecke, vor dem DJ-Pult, an den massiven Holztischen oder an der Bar kriegt nur, wer rechtzeitig kommt. Die Musik ist so bunt gemischt wie die Getränkekarte und die Gäste. Das Holy ist ein Treff für Freunde.
Freunde haben es geschaffen: Tobias Lintz, der Chef, ein lockerer Zwei-Meter-Mann, drückt es so aus: „Es war ein ehrenamtliches Aufbaukommando auf Kumpelbasis.“
2.05 Uhr. Für den Kneipenkorrespondenten gilt heute die Formel: Wer arbeiten kann, kann auch trinken. Tobias Lintz' Konzept des heiligen Absturzes ist so wenig verschnörkelt wie die Einrichtung: „Kontinuität und gleich bleibend schlechter Service auf hohem Niveau!“
Nirgendwo sonst kann man sich so herrlich daneben benehmen und betrinken wie im Holy Home – deshalb wird es auch liebevoll „die Leber Münchens“ genannt. Chef Tobi sagt: „Jeder kommt hier rein und es muss schon viel passieren, damit man wieder raus muss.“
2.37 Uhr. Jeder ist Stammgast, keiner (mehr) Fremdling.
3.30 Uhr. Scherben liegen auf dem Boden, der Geruch von Wodka und Bier zieht sich durch die Luft.
Der AZ-Kneipenkorrespondent ist nach dem letzten Bier froh, dass in München alle Wege nach Hause kurz sind – und nimmt sich dennoch ein Taxi. Boris Breyer
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