Zwei Welten in einem Dorf
MÖDLAREUTH - Der 50-Seelen-Ort Mödlareuth war jahrzehntelang von einem Betonwall durchschnitten. Doch die Menschen dort haben wieder zusammengefunden. Noch heute steht ein Stück Mauer in „Little Berlin“ – ein Besuch imGrenzgebiet
Plötzlich ist alles anders. Als Karin Mergner in der Früh die Tageszeitung holt, kommen zwei Trabis angefahren. Und Nachbarin Helga, die jenseits der Mauer lebt, schreit laut „Guten Morgen“ rüber. „Guten Morgen“ – nach Jahrzehnten der erzwungenen Funkstille. Nach Jahrzehnten, in denen es verboten war, zu grüßen. Oder auch nur zu winken. Es ist der 11. November 1989 in Mödlareuth.
Zwei Tage zuvor ist in Berlin die Mauer gefallen. In der großen Stadt, die kaum zu vergleichen ist mit diesem 50-Seelen-Dorf im äußersten Zipfel Oberfrankens, in dem man noch heute keinen Handy-Empfang hat. Trotzdem nennen die Amerikaner Mödlareuth zur Zeit des Kalten Kriegs „Little Berlin“. Denn auch hier verläuft die Mauer mitten durch den Ort. 700 Meter lang, 3,30 hoch. Auf einem Schild an einer Scheune neben dem Betonwall steht: „Mödlareuth einst ein Dorf, geschützt im Tannbachgrund gelegen, jetzt ein Beispiel für die Teilung Deutschlands.“
Schon lange bevor das weiße Ungetüm gebaut wird, ist der kleine Ort zweigeteilt. Zumindest auf dem Papier. Seit 1810 gehört die eine Hälfte zum Fürstentum Reuß, einem Kleinstaat im heutigen Thüringen. Die andere Hälfte liegt im Königreich Bayern. Doch diese Teilung ist reine Formsache und die Grenze, der schmale Tannbach, mit einem Sprung zu überwinden. Auf der thüringischen Seite gehen alle Dorfkinder gemeinsam zur Schule und die Männer ins Wirtshaus. Zum Gottesdienst trifft man sich dafür im benachbarten bayerischen Töpen. Bis der Kalte Krieg der Gemeinschaft ein Ende bereitet.
1952 beginnt die totale Abgrenzung beider Ortsteile mit einem übermannshohen Bretterzaun. Freundschaften, Familien, wirtschaftliche Verbindungen – die Barriere geht mitten durch. Auch Siegfried Seidel besucht zu dieser Zeit die Volksschule im thüringischen Teil. Doch dann darf er auf einmal nicht mehr auf die andere Seite. Nur wenn der Bub auf die Scheune kraxelt, kann er seine Schulkameraden sehen. Er winkt. Aber sie dürfen nicht antworten. Mehr als Blickkontakt ist nicht möglich. „Bis heute habe ich kein Abschlusszeugnis“, erzählt der heute 70-Jährige. Dabei hätte er nur noch vier Wochen Schule gehabt.
Der Grenzwall in Mödlareuth wird immer weiter „perfektioniert“. Aus Brettern wird Stacheldraht. Aus Stacheldraht Beton. Erst 1966, fünf Jahre später als in Berlin, wird in dem kleinen Ort eine Mauer errichtet.
An die Bauarbeiten kann Karin Mergner sich nicht mehr erinnern – obwohl sie kurz zuvor nach Mödlareuth gezogen ist. Die heute 62-Jährige weiß nicht warum, aber die Erinnerung ist einfach weg. Dafür hat sich der Tag in ihr Gedächtnis eingebrannt, an dem sie als Mädchen erstmals durch den Ort fuhr. Am Bach standen Männer mit Gewehren. Überall Stacheldraht. „Ach Gott, sind das arme Menschen hier!“, dachte sie damals.
Drei Jahre später lernt sie auf einem Tanzfest ihren späteren Mann kennen. Als sie ihn fragt, woher er kommt, antwortet er bloß: „Aus dem Dorf, wo es zwei Welten gibt.“
Das Leben mit der Mauer. Was für andere eine gespenstische Vorstellung ist, wird für die Mödlareuther zur Normalität. Was soll man auch dagegen tun? Als störend empfindet mancher Bewohner eher noch die vielen Touristen, die den bayerischen Teil besuchen. Rund 40 000 im Jahr. „Die schauen uns an, als wenn wir auf dem Mond leben“, ärgert sich Karin Mergner immer wieder. Kaum einer im Dorf glaubt zu dieser Zeit, dass er es noch mal erleben wird - ein Mödlareuth, wie es früher war. Ohne Mauer.
Und plötzlich ist alles anders. Es ist ein Donnerstag, an dem alle Augen auf Berlin gerichtet sind. Die Welt feiert die Wende. Aber in „Little Berlin" bleibt es zuerst noch ruhig. Erst am Samstag kommen die Trabis. Menschen aus den thüringischen Nachbarorten und aus Ost-Mödlareuth selbst besuchen den kleinen Ort. Als Karin Mergner vom Melken zurückkommt, ist ihre Küche voller Menschen. Bekannte sind da und Fremde.
80 Kilometer Straße für 80 Meter Luftlinie
Am Tag darauf ist im bayerischen Teil von Mödlareuth ein Fest angesagt – Kirchweih. Und alle wollen dabei sein. Ein benachbartes Ehepaar kann es gar nicht mehr erwarten und will ja nicht zu spät kommen. Es bricht schon im Morgengrauen auf, um den nächstgelegenen Grenzübergang zu passieren. Auch wenn die Häuser nur 80 Meter Luftlinie voneinander entfernt sind, muss man dafür 80 Kilometer fahren. Der befürchtete Stau bleibt in aller Herrgottsfrühe aus. Deswegen steht das thüringische Paar schon um 4.30 Uhr mit seinem Trabi mitten im bayerischen Teil des Dorfs. Karin Mergner muss heute noch herzlich lachen, wenn sie daran denkt.
Euphorisch versuchen ein paar Mödlareuther an diesem Wochenende, die Mauer mit Hämmern zu zertrümmern. Keine Chance. Es dauert noch fast einen ganzen Monat, bis ein Grenzübergang eröffnet wird. Eine fünf Meter breite Schneise, die wie ein Wunder ist nach 37 Jahren der absoluten Abgrenzung. Der Rest der Betonsperre bleibt aber weiter stehen – noch bis zum 17. Juni 1990. Bei einer Feier zum DDR-Volksaufstand 1953 beauftragt der damalige Bürgermeister Arnold Friedrich kurzum einen Bauunternehmer, den Großteil der Mauer einzureißen. Ein DDR-Grenzer am Wachturm kommentiert das mit den Worten: „Hier zerbricht mein Lebenswerk.“
Noch immer zwei Welten
Auch fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Mödlareuth kein normales Dorf. Immer noch gibt es hier „zwei Welten“. Zumindest was die Verwaltung angeht: Unterschiedliche Postleitzahlen, Telefonvorwahlen, Fahrzeugkennzeichen und Bürgermeister. Der winzige Tannbach trennt den bayerischen vom thüringischen Teil. Wie eh und je. Die Bewohner haben sich dafür entschieden, einen Teil der Mauer stehen zu lassen. Damit die Geschichte lebendig bleibt. Um die 60 000 Menschen besuchen jährlich das deutsch-deutsche Museum, das hier entstanden ist.
Wenn die Touristen einen Mödlareuther grüßen, kommt es bei der Antwort darauf an: Auf der thüringischen Seite wird ihnen „Guten Tag“ erwidert. In Bayern „Grüß Gott“. Doch trotz aller Unterschiede: „Grenzen in den Köpfen gibt es hier kaum", versichert Museumsleiter Robert Lebegern. „Das Dorf ist schon wieder zusammengewachsen.“
Der 14-jährige Alexander kennt die deutsch-deutsche Teilung nur aus Erzählungen seiner Oma Karin Mergner. „Für mich ist das Geschichte“, sagt er. Genauso wie für seine beiden Cousins und die Cousine, die vor einigen Jahren mit ihren Eltern in die thüringische Hälfte von Mödlareuth gezogen sind – und mit denen er oft durch den Ort radelt.
Am Schluss hat das Schild, das seit den 70ern an der Scheune neben der Mauer hing, eben doch Recht behalten. Darauf war die ganze Zeit zu lesen: „Diese Grenze ist keine Grenze. Wir sind hier mitten in Deutschland.“ 300 Kilometer sind es nach Berlin, 300 nach München. Nur der kleine Tannbach trennt die Ost-Mödlareuther heute von den West-Mödlareuthern. Mehr nicht. Nicht mehr.
Julia Lenders
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