Wirtschaftsethiker im AZ-Interview: "Diese Krise überfordert"
AZ-Interview mit Christoph Lütge: Der gebürtige Niedersachse (52) ist seit 2010 Professor für Wirtschaftsethik an der TU München.
Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der europäischen KI-Ethik-Initiative AI4People und lehrte in Harvard, Pittsburgh, Taipeh, Kyoto und Venedig. 2021 wurde er unter anderem wegen Kritik an Lockdowns aus dem bayerischen Ethikrat der Staatsregierung abberufen.
AZ: Herr Professor Lütge, die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine haben verdeutlicht, wozu Abhängigkeit von autoritären Regimen führen kann. Doch es scheint kaum einen Ausweg zu geben - so ist eine Alternative zu russischem Gas das Flüssiggas aus Katar, für viele weitere Rohstoffe ist China ein großer Produzent. Ist es überhaupt möglich, sich völlig vom Handel mit autoritären Regimen abzukoppeln? Und ist das wünschenswert, oder sollte man auch auf das alte Motto "Wandel durch Handel" setzen?
CHRISTOPH LÜTGE: Ich habe immer daran geglaubt, dass Wandel durch Handel eine gute Option ist. In der heutigen Welt nur mit völlig lupenreinen demokratischen Regimen zusammenzuarbeiten, ist nicht möglich. Das gilt für Katar, für Russland und andere. Grundsätzlich finde ich es sinnvoll, wenn man sich nicht von einem einzigen Staat abhängig macht - das haben wir in Deutschland getan in den letzten zehn bis 15 Jahren. Es war lange absehbar, dass wir uns hätten diversifizieren müssen, wir hätten zum Beispiel Flüssiggasterminals bauen müssen. Andere Länder haben einen anderen Weg verfolgt und deswegen jetzt kein Problem.
Haben uns Gier und Sparwut in diese Lage gebracht?
Nein. Wenn man besser kalkuliert hätte, dann hätte klarwerden müssen: Wenn man sich von einem Anbieter abhängig macht, riskiert man, dass der entweder die Preise erhöht oder auf andere Weise Druck ausübt - das ist klassische Marktwirtschaft. Das war nicht nur eine Sparüberlegung, sondern geschah offensichtlich aus politischen Gründen.
Frieren für den Frieden in der Ukraine - das sehen viele als moralisches Handeln an. Doch auch hierzulande gibt es Menschen, die bereits massiv unter den gestiegenen Preisen leiden, und es werden noch mehr werden. Sind unsere Nachteile dennoch die ethisch bessere Option?
Aus Sicht der Ethik ist etwas wichtig, was gerne ausgeblendet wird: dass eine verantwortungsvolle Strategie die Menschen nicht überfordern darf. Das ist hier ganz klar die Gefahr. Da können Politiker noch so sehr moralisch aufrüsten, wir überfordern die Menschen schon mit dem, was bereits abzusehen ist, den hohen Abschlägen für Gas und Strom. Ethik verlangt immer eine Abwägung mehrerer Gesichtspunkte. Man darf nicht nur einen Gesichtspunkt einnehmen und als einzig relevanten darstellen. Man darf sich nicht vom Guten erpressen lassen. Wir müssen berücksichtigen, dass für die Menschen, die schon zwei Jahre unter Corona-Maßnahmen leben mussten, diese Krise noch hinzukommt und sie überfordert. Das kann Ethik nicht wollen.

Sollte die Politik sich mehr Rat von Sozialverbänden holen oder intensiver den Austausch mit Bürgern suchen?
Es ist wichtig, mit den Leuten vor Ort zu sprechen. Laut Umfragen machen sich mehr als 80 Prozent der Menschen Sorgen wegen der gestiegenen Energiepreise. Das ist nicht ungefährlich, wenn man mit diesen Aussichten in den Herbst und Winter hineingeht.
"Das kann zu sozialem Unfrieden in großem Maßstab führen"
Welche Gefahren sehen Sie konkret?
Wir hatten schon 2020 eine angespannte Lage in Deutschland. Andere Länder haben die Corona-Krise abgehakt. Wir haben das immer noch nicht geschafft. Jetzt schlittern wir in die nächste Krise hinein. Wir haben seit zwei Jahren mit Angst und Panikmache gearbeitet. Jetzt brennt das den Leuten noch viel mehr auf den Nägeln, dass sie befürchten, nicht mehr bezahlen zu können. Das kann zu einem sozialen Unfrieden in großem Maßstab führen, gegen den das, was wir in den letzten zwei Jahren an Widerspruch gesehen haben, gar nichts war. Ich erwarte massivste Proteste.
Kann diese Lage die Demokratie in Gefahr bringen?
Ja. Weil es einfach nicht gelingt, Probleme zu bewältigen. Das Vertrauen der Menschen in die Politik ist massiv beschädigt. Ohne das Vertrauen der Bürger funktionieren Institutionen aber nicht. Es schadet, wenn sie merken, die Politiker können die Energieversorgung nicht sichern - etwas, was in anderen Ländern funktioniert. Mir ist kein anderes Land bekannt, das solche Probleme mit der Energieversorgung hat. Da ist etwas fundamental schiefgelaufen.
Es wird diskutiert, russischen Touristen keine Visa mehr für EU-Länder zu erteilen. Ist das ethisch fragwürdig, normale Menschen in Sanktionen einzubeziehen?
Das wird nicht funktionieren, und es ist auch nicht der ethisch richtige Weg. Wenn man versucht, Bürger zu treffen, trifft man gleichzeitig so viele Unbeteiligte und Unschuldige, und gleichzeitig bewirkt man nichts. Die Yachten der Oligarchen zu blockieren, hat auch nichts gebracht.
Der Krieg in der Ukraine führt dazu, dass frühere, als moralisch besser empfundene Entscheidungen wie etwa der Ausstieg aus der Atomenergie infrage gestellt werden, weil der Weiterbetrieb von AKW jetzt eine pragmatische Lösung sei. Ist das verwerflich?
Ich halte es für verwerflich, an einer einmal getroffenen Entscheidung unter allen Umständen festzuhalten. Man muss dazulernen und Entscheidungen im neuen Licht sehen können. Viele hochkarätige Wissenschaftler haben die AKW-Entscheidung damals für falsch gehalten, aber nichts gesagt. Das war das erste Mal, dass ein solcher Druck entstand vonseiten der Politik, auch gegen wissenschaftlichen Rat eine bestimmte Entscheidung auf Biegen und Brechen durchzusetzen. Das ist einer dieser deutschen Sonderwege, und ich halte es für absolut richtig, ihn jetzt infrage zu stellen.

Der Einfluss Chinas und zuletzt auch Russlands in Ländern des globalen Südens ist groß. China bringt Geld - das scheint viele arme Länder zu überzeugen. Inwieweit können und sollen demokratische Staaten dagegenhalten?
Das hätte man längst tun sollen. China hat viel investiert in Afrika, nicht nur in klassische Rohstoff-Infrastruktur, sondern in vieles andere bis hin zu kulturellen Institutionen. Der Westen hat dort jahrzehntelang nichts getan. Vor allem hat er ein Engagement dort lange Zeit nicht als Win-Win gesehen, sondern immer Entwicklungshilfe betrieben - nach dem Motto, wir geben euch etwas, damit ihr euch entwickeln könnt. China hat gesagt, wir wollen von euch etwas und wir geben euch etwas. Würde der Westen das ebenso machen, würde das viel bewirken.
Ist es dafür schon zu spät?
Ich glaube, dass das möglich ist. Afrika ist ein so riesiger Markt. Nehmen Sie die Seltenen Erden. Wir brauchen sie für Computer und andere digitale Geräte, für Batterien. Im Kongo wird viel davon abgebaut. China hat sich große Teile gesichert, aber auch der Westen hätte eine Chance. Man könnte sich dort für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen und im Gegenzug anbieten, etwas mehr zu zahlen für das, was man bekommt - auch das wäre ein klares Win-Win. Es muss eine wechselseitige Beziehung sein, sonst geht es nicht.
"Die Deutschen glauben gern, dass sie ethischer handeln als andere"
Im Europa-Vergleich - wie ethisch handelt die deutsche Wirtschaft insgesamt?
Sie steht nicht so schlecht da. Man hat aus Skandalen gelernt, wie etwa dem VW-Skandal. Woran es im Vergleich zu anderen Ländern noch hapert, ist Transparenz - etwa bei der Frage, was Nachhaltigkeit im Unternehmen eigentlich bedeutet.
Wer macht es besser?
Unternehmen aus dem britischen und skandinavischen Raum machen es gut. Im Vereinigten Königreich etwa gibt es schon lange den Modern Slavery Act gegen Ausbeutung.
Ist in diesen Ländern die Gesellschaft ethisch weiter als die deutsche?
Die Deutschen glauben gern, dass sie ethischer handeln als andere. Weil man schon immer das Thema Umwelt stark berücksichtigt hat. Aber Ethik betrifft noch andere Aspekte, nicht nur Mülltrennung. Es bedeutet sehr viel mehr, da ist die Gesellschaft anderenorts weiter. Das Thema Diversity kam in Deutschland sehr viel später als in anderen Ländern an, ebenso wie Diskriminierung und Arbeitsbedingungen im Ausland.
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