Wie Kinder zu lebenden Bomben werden

«Ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben», klagt ein Vater in Pakistan nach einem Selbstmordanschlag seines 17-jährigen Sohnes. Taliban sollen bereits Hunderte Kinder gelehrt haben, sich als «Märtyrer» in die Luft zu jagen.
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Taliban-Kämpfer wissen, wie sie das Gefühl von Ungerechtikgeit bei Kindern in Hass umwandeln.
AP Taliban-Kämpfer wissen, wie sie das Gefühl von Ungerechtikgeit bei Kindern in Hass umwandeln.
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«Ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben», klagt ein Vater in Pakistan nach einem Selbstmordanschlag seines 17-jährigen Sohnes. Taliban sollen bereits Hunderte Kinder gelehrt haben, sich als «Märtyrer» in die Luft zu jagen.

Bevor die Taliban ihn zum Selbstmordattentäter machten, war Haneef Mehsud ein ganz normaler Teenager, der viel mit Freunden verbrachte. Kurz nach seinem 17. Geburtstag verübte er Ende 2008 im halbautonomen Stammesgebiet Süd-Waziristan in Pakistan einen Selbstmordanschlag. Nicht weit weg von seinem Heimatdorf Pekai steuerte Haneef ein Bombenauto mit Vollgas in einen Armeekonvoi und riss zwei Soldaten mit in den Tod.

«Zwei Wochen zuvor war er noch hier. Wir wollten ihn davon abbringen... Er sagte, er würde bald zum Märtyrer werden, aber das ist er nicht», sagte sein Vater Ghazi Mehsud. Tränen rinnen ihm übers Gesicht in den langen grauen Bart. «Ich weiß nicht, was sie (die Taliban) mit meinen Sohn gemacht haben. Seine Mutter und Schwestern haben so geweint, aber er war wie aus Stein. Wir sollten ihm nur vergeben. Dann ist er gegangen», sagt Ghazi.

15-Jähriger als «Ersatz-Selbstmordattentäter

Um seinen zweiten jungen Sohn dem Einflussbereich des regionalen Extremistenanführers Baitullah Mehsud zu entziehen, den er für den Tod seines Kindes verantwortlich macht, zog Ghazi in den benachbarten Bezirk Tank in der Nordwest-Grenzprovinz. In den von Mehsud betriebenen Schulen für Selbstmordattentäter aber werden weiter Hunderte von Kindern einer Gehirnwäsche unterzogen. Der Paschtune, der in den 30ern ist, ist der Chef eines Al-Qaida-nahen Netzwerkes von rund einem Dutzend militanter Gruppen. Auf sein Konto sollen Dutzende von Selbstmordanschlägen im ganzen Land gehen, darunter der Mord an der früheren Premierministerin Benazir Bhutto in Rawalpindi im Dezember 2007. Bei den Ermittlungen im Fall Bhutto wurde der 15 Jahre alte Aitzaz Shah in Dera Ismail Khan festgenommen. Shah sagte beim Verhör, er sei als «Ersatz-Selbstmordattentäter» dabei gewesen.

Stirnbänder mit Koranversen

Im Januar 2008 hob das Militär während einer Offensive die «Schule für Selbstmordattentäter» in der Region Spinkai in Süd-Waziristan aus. Später zeigte die Armee Reportern Videoaufnahmen von einem Klassenraum, in dem ein vermummter Lehrer seinen Schülern erklärt, wie man sich selbst in die Luft sprengt. Die Jungen sitzen in Reihen, um den Kopf ein weißes Band mit Koran-Versen geschlungen. Mehr als 50 Jungen nahmen die Soldaten nach Armeeangaben damals in Gewahrsam. Nach dem Armeeabzug im Zuge eines umstrittenen Abkommens mit den Taliban ist die «Schule» längst wieder geöffnet. Der Geheimdienst schätzt, dass bislang mehr als 5000 Kinder im Alter zwischen zehn und 17 darin geschult worden sind, als lebende Bombe zum «Märtyrer» zu werden. Die meisten Kinder werden ins benachbarte Afghanistan geschickt, um ausländische und afghanische Soldaten ins Visier zu nehmen, der Rest übernimmt Kommandos in Pakistan.

Kind reißt 26 Gläubige mit in den Tod

Erst am 6. April sprengte sich ein Kind in einer Schiiten-Moschee in der Provinz Punjab in die Luft und riss 26 Gläubige mit in den Tod. Die meisten der jungen Täter kommen aus Koran-Schulen in den Stammesregionen im Grenzgebiet zu Afghanistan und aus Dörfern der Nordwest-Grenzprovinz. Ihre Eltern schicken sie dorthin - eine andere Schulausbildung können sie nicht bezahlen. «Die Kinder, die in den Medressen von Spendengeldern beköstigt werden, haben ein tief sitzendes Gefühl für Ungerechtigkeiten. Die militanten Ausbilder wissen dieses geschickt in Hass zu wandeln gegen den Westen und dessen Befürworter, die, wie sie sagen, die armen Muslime in aller Welt unterdrücken», sagt Mian Aftab Ahmad von der Psychologischen Vereinigung Pakistans.

Rigide Auslegung des Islam

Nachdem den Jungen eine rigide Auslegung des Islams eingebläut worden ist, gibt es Kurse in konventioneller Kriegsführung. Nur die Hochmotivierten werden als Selbstmordattentäter auserwählt. Dazu gehörte auch Zakaullah (15). Nur weil seine Eltern aus der Bajaur Stammesregion wegzogen, wurde es nichts mit dem Attentat. «Ich kann mit einer Kalaschnikow umgehen, mit einem Raketenwerfer, und eine Landmine kann ich auch legen», sagt Zakaullah, der auf einem Markt in der Stadt Rawalpindi Schuhe wienert, stolz. «Ich bin ausgesucht worden zum Training für Selbstmordattentate, aber dann ist meine Familie hierher gezogen.»

Reintegration in die Gesellschaft

Zakaullahs Vater ist Schuster und heilfroh, dass die Madrasa in Bajaur in weiter Ferne liegt und er seinen Sohn jetzt im Blick hat. Aber er macht sich immer noch Sorgen und ist auch enttäuscht, weil er so gar keine Hilfe vom Staat bekommt, um seinen Sohn wieder auf die rechte Bahn zu bekommen. «In Bajaur haben die Taliban fernsehen verboten. Seit wir hier sind, haben wir Kabel-TV. Zuerst hat Zakaullah das abends zwei, drei Stunden gesehen. Aber dann fand er das «unislamisch»», erzählt Sher Zaman. Jetzt höre Zakaullah nur noch von den Taliban aufgenommene Kassetten mit Predigten, die ihm ein Freund in Bajaur besorge. Wie aber ließe sich ein Junge wie er denn wieder in die Gesellschaft eingliedern? Darauf weiß auch die Psychologin Dr Yasmin Nilofer Farooqi von der Universität in Lahore keine Antwort. «Soweit ich weiß, gibt es dazu keine einzige anerkannte Untersuchung. Und in die Stammesregionen können wir wegen des andauernden Konflikts nicht. «Die einzige Quelle für die Forschung sind die wenigen gefassten Kinderselbstmordattentäter. Aber die Sicherheitskräfte erlauben uns erst gar nicht, mit ihnen zu sprechen.» (Von Nadeem Sarwar, dpa)

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