Interview

Ukrainerin Marianna Wischemirskaja : "Ich bin froh, dass ich überlebt habe"

Marianna Wischemirskaja lag in Mariupol in der Entbindungsklinik, als diese angegriffen wurde. Inzwischen ist die 29-Jährige Mutter geworden und hält sich an einem geheimen Ort auf.
von  Roland Bathon, Liudmila Kotlyarova
Nachdenklicher Blick, das Handy griffbereit: Dieses Bild von sich hat Marianna Wischemirskaja der AZ aus ihrem Versteck geschickt.
Nachdenklicher Blick, das Handy griffbereit: Dieses Bild von sich hat Marianna Wischemirskaja der AZ aus ihrem Versteck geschickt. © privat

Ihr Bild ging um die Welt: Hochschwanger und mit blutverschmiertem Gesicht floh die Beauty-Influencerin Marianna Wischemirskaja (29) nach dem mutmaßlichen russischen Luftangriff auf eine Geburtsklinik im ukrainischen Mariupol aus dem Gebäude. Mittlerweile ist sie Mutter eines kleinen Mädchens.

Nach dem Angriff tobte um sie ein Medienkrieg: Russische Sender warfen ihr vor, Teil einer westlichen Inszenierung zu sein. Westliche griffen sie an, russische Propaganda zu unterstützen, da sie den Luftangriff nicht bestätigte. Die Abendzeitung hat mit ihr gesprochen.

AZ: Frau Wischemirskaja, um Sie gab es zuletzt Gerüchte, Sie seien entführt und nach Russland gebracht worden. Sie meinten im Vorabgespräch, Sie möchten nicht sagen, wo Sie sich gerade befinden - aber ich hoffe, Sie sind in Sicherheit?
Marianna Wischemirskaja: Ja, ich bin in Sicherheit, und ich wurde nicht entführt. Das Militär der Volksrepublik Donezk (international nicht anerkannte, prorussische Rebellen, Anm. d. Red.) kam, als ich nach meiner Entbindung im Krankenhaus war, und meinte, wir könnten evakuiert werden. Wir wurden nicht zur Evakuierung gezwungen. Es konnte nur jeder gehen, der wollte - mein Mann und ich gingen. Ich bin jetzt in der Gegend, die von Donezk kontrolliert wird, aber nicht in Russland.

"Von der Stadt ist praktisch nichts mehr übrig"

Wieso sind Sie ins Rebellengebiet geflüchtet? Leute im Westen können sich überhaupt nicht vorstellen, dass man dort aus freiem Willen hingehen kann.
Meine Bekannten, die in den Westen evakuiert werden wollten, hatten keine Gelegenheit mehr dazu. In den ersten Tagen nach dem Kriegsausbruch hatten es noch viele mit Privat-Pkw geschafft. Danach versuchten Freunde von uns, die Stadt Richtung Zentralukraine zu verlassen, wurden vom ukrainischen Militär jedoch zurück in die Stadt geschickt. Es wurden Evakuierungstreffpunkte über die Nachrichten angekündigt, wo dann Leute vergeblich warteten. Zu Hause war es auch sehr gefährlich. Von der Stadt ist praktisch nichts mehr übrig, sie war für mich wie ein Käfig. Ab 2. März hatte ich zudem keinen Strom mehr.

Dieses Bild ging um die Welt: Wischemirskaja flieht nach dem Beschuss aus dem Entbindungskrankenhaus in Mariupol.
Dieses Bild ging um die Welt: Wischemirskaja flieht nach dem Beschuss aus dem Entbindungskrankenhaus in Mariupol. © Evgeniy Maloletka/AP/dpa

"Auch in unsere Wohnung flogen Granatsplitter"

Ihre Stadt ist stark zerstört. Harren dort noch Freunde von Ihnen aus oder haben alle Mariupol verlassen?
Wir haben dort noch Bekannte, aber die Zerstörung ist wirklich groß. In keinem Bezirk gibt es noch unbeschädigte Häuser. Manche sind komplett kaputt, andere teilweise. Manche haben das Glück, dass ihre Wohnung noch intakt ist. Aber oft leben sie aus Angst in Kellern. Auch in unsere Wohnung flogen Granatsplitter und zerstörten die Fensterscheiben. Da bin ich am 6. März in die Entbindungsklinik Nr. 3 gefahren. Viele schwangere Mädchen hielten sich aus Angst dort meist im Keller auf. Ich wurde aus dem Keller am 9. März vorläufig evakuiert - nach dem Angriff.

War die Entbindungsklinik bei Ihrer Aufnahme in einem guten Zustand? Gab es dort Militär?
Bis zum 9. März, dem Tag des Einschlags, war sie in einem guten Zustand. Die Klinik Nr. 3, die getroffen wurde, wird oft mit einer anderen verwechselt. In der Nr. 1 war Militär, da es dort Solarzellen gab, die von den Soldaten gebraucht wurden. Das ist aber nicht die getroffene Klinik. In meiner war ich oben nur im ersten und zweiten Stock. Dort gab es nur schwangere Frauen, die in den Wehen lagen und einige Ehemänner. Im Keller waren neben Schwangeren auch Leute aus den umliegenden Häusern. Niemand wurde abgewiesen, nur weil er nicht schwanger war. Militär war nur dort, wenn es Kinder zum Schutz dorthin brachte.

"Ich weiß nicht, woher die westlichen Journalisten kamen"

Das Militär war nach dem Treffer sehr schnell vor Ort. War es nicht weit weg?
Es war in der Nähe. Sie waren in einer Station für Onkologie im übernächsten Haus. Das wusste auch jeder, das war kein Geheimnis. Ich weiß allerdings nicht, woher die westlichen Journalisten kamen. Sie waren 15 Minuten nach dem Einschlag da und filmten dieses Mädchen auf der Trage. Sie wurde zuerst herausgebracht, da man als erstes die Schwerverletzten evakuiert hat, eine Viertelstunde nach der Explosion.

Es wurde berichtet, dass Sie einen Luftangriff auf die Klinik bestreiten und sich damit widersprechen.
Ich habe weiter weg eine Explosion gehört und dann näher noch eine. Wir Mädchen haben darüber gesprochen, dass keine von uns ein Flugzeug gehört hat. Es gab die beiden Explosionen, sonst habe ich nichts gehört.

"Es ist jetzt nicht die Zeit, über Kosmetik zu schreiben"

In den russischen Nachrichten wiederum wurden Sie als Teil einer inszenierten Aufführung des Westens bezeichnet.
Ich lese solche Sachen nicht mehr und möchte solche Sachen nicht lesen. Ich habe ein kleines Kind, es braucht meine Aufmerksamkeit. Tausende Leute kommentieren ständig alles, mein Instagram wurde wegen vieler Spam-Kommentare sogar gesperrt. Leute schrieben sogar meine Verwandten und Freunde an. Manches ist offenes Mobbing. Ich werde über Soziale Netzwerke jetzt von Anhängern beider Seiten im Krieg bedrängt und würde am liebsten die OSZE darauf aufmerksam machen.

Haben Sie nach dem vielen Hass im Internet noch Lust, auf Instagram aktiv zu sein?
Momentan habe ich dazu weder Zeit noch Lust. In der aktuellen Situation will ich mich nicht mit Sozialen Netzwerken befassen. Es ist momentan auch nicht die Zeit, über Kosmetik zu schreiben, bei all dem, was jetzt geschieht. Themen wiederum wie Politik sind nicht meines. Ich werde dazu nichts machen. Ich bin froh, dass ich überlebt habe.

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