Sensibler Raketenschirm
Was wird aus dem strategischen Gleichgewicht? Russland befürchtet eine Entwertung der eigenen Atomwaffen.
Chicago - Die Nato hat auf ihrem Gipfeltreffen in Chicago ein sensibles Großprojekt beschlossen: Der Raketenschirm in Europa nimmt den Betrieb auf, teilten die 28 Bündnisländer mit. Damit sollen Raketen aus feindlichen Staaten abgefangen werden. Doch das mehrstufige Projekt, dessen erste Phase nun startet, sorgt für politische Spannungen. Russland fühlt sich bedroht.
Wozu dient der Raketenschirm?
Die Raketenabwehr der Nato soll ganz Europa vor möglichen Angriffen – auch atomar – etwa aus dem Iran schützen. Konkret geht es um Kurz- und Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von bis zu 3000 Kilometern, die Anders Fogh Rasmussen als „reale Bedrohung“ bezeichnete. Insgesamt werde 30 Ländern zugetraut, solche Waffen einzusetzen. Geplant ist ein Netz von Radaranlagen und Stellungen mit Abwehrraketen in Europa, um feindliche Raketen im Anflug zu zerstören.
Was bedeutet die erste Phase, die die Nato jetzt beschlossen hat?
Es geht um die ersten Schritte, die so genannte „Anfangsbefähigung“ (Interim Operational Capability) der Raketenabwehr. Die USA haben dazu Aegis-Kreuzer im Mittelmeer stationiert, Spanien hat die Marinebasis Rota bei Cádiz als Heimathafen der US-Schiffe bereitgestellt, in der südöstlichen Türkei ist eine hochmoderne Radaranlage aufgestellt worden. Auf dem Nato-Stützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein ist die Kommandozentrale der Raketenabwehr entstanden. All das bedeutet eine erste, aber noch begrenzte Befähigung, Europa vor Raketenangriffen zu schützen. Die technische Ausstattung stellen derzeit vor allem die USA zur Verfügung.
Wie geht es weiter?
In den ab 2015 geplanten Phasen 2 bis 4 kommen Abschussbasen für bodengestützte Abfangraketen in Polen und Rumänien hinzu. Deutschland wird sich mit seinen Flugabwehrraketen vom Typ Patriot beteiligen, die die Bundeswehr schon seit 1989 im Betrieb hat. Sie können anfliegende Raketen in einer Entfernung von etwa 68 Kilometern abschießen, sind also nur zur Abwehr von Kurzstreckenraketen geeignet. Zudem werden niederländische Fregatten mit Frühwarnradargeräten in das System eingebaut.
Zwischen 2018 und 2020 sollen dann neue Abwehrraketen erprobt werden, die auch Langstreckenraketen unschädlich machen können. Ein Hauptproblem der Raketenabwehr ist, dass nur wenige Minuten – im besten Fall etwa 20 Minuten, oft aber weniger – bleiben, um eine feindliche Rakete zu identifizieren und mit einer Abfangrakete zu treffen.
Worin liegt das Problem mit Russland?
Russland lehnt die Raketenabwehrpläne ab, weil es fürchtet, damit könnten die eigenen strategischen Atomwaffen entwertet werden. Beobachter warnen schon lange, dass dieses Thema zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Nato und Russland führen könnte: Sollten die russischen Bedenken nicht ausgeräumt werden, droht eine neue Eiszeit. So lässt sich auch die Gipfel-Absage von Staatspräsident Wladimir Putin deuten, der gestern in Moskau lieber seine neue Regierungsmannschaft präsentierte.
Nato-Generalsekretär Rasmussen bemühte sich deswegen, die Wogen zu glätten: „Wir haben Russland zur Zusammenarbeit eingeladen. Und diese Einladung gilt immer noch.“ Er betonte, dass die Nato-Abwehr auf auf einzelne Raketen von „Schurkenstaaten“ ausgerichtet sei. Die Sorge vor einer Veränderung des strategischen Gleichgewichts, wie sie am Sonntag der russische Vize-Verteidigungsminister Anatoli Antonow vorbrachte, seien unbegründet. Zudem sei die Nato bereit, technische Informationen mit Russland auszutauschen und russischen Experten Zugang zu der Abwehr zu gewähren. Doch das ist Russland nicht genug: Es will einen völkerrechtlichen Vertrag mit der Nato, der ihnen eine Kontrolle des Systems ermöglicht.
Wegen des Widerstands aus Russland war Deutschland in der Vergangenheit lange zurückhaltend gegenüber der Raketenabwehr eingestellt.
Wie geht es weiter?
Chicago 2012 jedenfalls hat nicht zur Annäherung beigetragen. Größere Probleme befürchten Beobachter ab 2015. „Wenn Abfangraketen in Polen stationiert werden, ist für Russland ein wirklich kritischer Punkt erreicht“, so ein Nato-Diplomat laut Stern.de.