Seehofers Bauchgefühl
MÜNCHEN - Der CSU-Chef will keine Umfragen, weil er den Aufwind für seine Partei auch so zu spüren vermeint. Dabei knirscht es an allen Fronten
Horst Seehofer gibt sich trotzig. „Wir sind im Aufwind“, verkündet er bei jeder Gelegenheit und versucht gute Stimmung zu machen. „Das spür ich. Da hab’ ich mein Bauchgefühl. Da brauche ich keine Umfragen. Wir haben Boden gut gemacht.“ Doch das nimmt ihm in der CSU kaum noch jemand ab.
Während die Partei sonst vor Wahlen ständig das Wahlverhalten der Bürger durch Umfragen erforschen ließ, will Seehofer lieber nicht Schwarz auf Weiß dokumentieren, wie es um die CSU steht. Für die geht es nämlich ums nackte Überleben im Europa-Parlament. Ein Albtraum. Der macht selbst dem ausgekochten Horst Seehofer Angst.
Gab er vor gut einem halben Jahr bei seiner Kabinettsbildung noch den Kurs aus: „Keiner über 60!“, so greift er jetzt in der Not sogar zu den 70-Jährigen als letztes Aufgebot: Auf dem Europa-Parteitag an diesem Samstag im niederbayerischen Deggendorf müssen die beiden Ehrenvorsitzenden Ex-Bundesfinanzminister Theo Waigel (70) und Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber (67) die „Impulsreferate“ halten. „Das ist doch der Offenbarungseid“, wird im CSU-Vorstand gelästert. Die AZ zeigt Seehofers größte Baustellen:
Beamte: Wie nervös Seehofer ist, macht eine seiner jüngsten Anweisungen deutlich. Mit einer bis zu 300 Millionen Euro teuren Reduzierung der Arbeitszeit will er Bayerns Beamten ein Wahlgeschenk machen. Doch jetzt darf darüber nicht mehr geredet werden. Seehofer verhängte seiner Partei einen Maulkorb bis zum 7. Juni, dem Tag der Europawahl. Das bestätigte ein Kabinettsmitglied der AZ. Denn das Zwei-Stunden-Wahlgeschenk für die Staatsdiener brachte das restliche Wahlvolk in Wallung.
Bauern: Auch bei den Landwirten verliert die Partei weiter an Vertrauen. Ausgerechnet im Superwahljahr müssen sie um ihre Existenz kämpfen. Da nützt es wenig, dass Seehofer erst Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner zu einem Milchgipfel drängte. Und nun auch Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel schriftlich auffordert, ebenfalls einen abzuhalten. Den Bauern bringt’s wenig. „Die wählen niemanden anderes, aber sie gehen auch nicht zur Wahl“, prophezeit ein führender CSU-Mann.
Gentechnik: Für Verwirrung sorgte Seehofer bei den Wählern mit seiner Kehrtwende bei der Grünen Gentechnik. Die einen fragen: „Warum ist jetzt plötzlich das falsch, was die CSU zehn Jahre lang für richtig erklärt hat?“ Andere trauen Seehofer nicht über den Weg und rätseln: „Ist die CSU jetzt wirklich dagegen, oder ist sie nach der Wahl doch wieder dafür?“
Steuern: Selbst mit der Forderung für Steuersenkungen macht Seehofer keinen Boden gut. Ein Abgeordneter: „Auf meinen Veranstaltungen fragen mich die Leute immer: ,Wer soll das bezahlen?’.“
Parteifinanzen: Apropos kein Geld mehr: Erstmals hat die Landesleitung den CSU-Mitarbeitern das Parteitags-Catering gestrichen – sie müssen sich ihre Brotzeit jetzt selbst mitbringen.
Rauchen: Und dann kommen ausgerechnet jetzt wieder die Ärzte. Zur Landtagswahl hatten sie ihre Patienten aufgefordert, die CSU nicht zu wählen, weil sie um ihre Honorare fürchteten. Nun bestürmen sie ihre Patienten, beim Volksbegehren gegen Seehofers Lockerung des Nichtraucherschutzes mitzumachen.
Seehofers Stimmungsmache erinnert da manchen in der CSU an das Pfeifen im Walde. Der CSU-Chef selbst lächelt: „Ich arbeite jeden Tag gelassen und fröhlich. Mein Lebensmotto war immer: Wir machen jetzt das, was in unseren Kräften steht und warten ab.“
Angela Böhm