"Putin wird ins Lenkrad greifen"
MOSKAU - Mit 70,2 Prozent wurde er zum neuen Präsidenten Russlands gewählt: Dmitri Medwedew. Am 7. Mai tritt er sein Amt an. Aber wie ist er? Was hat Europa von ihm zu erwarten? Die AZ sprach darüber mit dem Russland-Experten Boris Reitschuster.
AZ: Ist Medwedew wirklich nur die Marionette Putins, die der Westen in ihm sieht, oder unterschätzt man ihn da?
REITSCHUSTER: Bislang ist es ganz eindeutig, dass er der Ziehsohn und die Marionette ist. Die große Frage ist aber, ob er das bleibt. Im Kreml war es so oft so, dass dort Leute eingezogen sind, die man für Marionetten hielt, die sich dann aber emanzipiert haben. Es ist noch völlig offen, ob Medwedew das schafft. Im Moment ist er ganz klar ein Teil des Putin-Clans und damit für die Fehlentwicklungen in Russland mit verantwortlich.
Also kein schleichendes Ende der Ära Putin? Sitzt er nach wie vor fest im Sattel?
Ich denke, dass er das möchte. Es gibt aber Hoffnungen, dass es ein schleichendes Ende sein könnte. Die Wahrscheinlichkeit würde ich bei etwa 30 Prozent ansiedeln. Aber realistischerweise spricht viel dafür, dass das nur ein Rollenwechsel innerhalb des Clans war und Medwedew nur das liberale Feigenblatt nach außen sein soll. Von daher wundern man mich jetzt manche Stimmen im Westen, die ich für ein bisschen naiv halte, wenn sie seine Weltoffenheit und Liberalität loben.
Das heißt, Sie erwarten auch keine Verbesserung der Beziehungen zum Beispiel zu Deutschland?
Genau. Das ist Wunschdenken. Zum einen hat Medwedew im Gegensatz zu Putin keinen Deutschland-Bezug, zum anderen bleibt abzuwarten, was hinter der liberalen Rhetorik steht. Man hat im Westen offenbar schon vergessen, dass Putin vor acht Jahren mit fast den gleichen Worten antrat und Demokratie versprach. Und wir wissen, was daraus geworden sind.
Wie tickt denn Medwedew?
Einerseits ist er ein ganz treuer Jünger von Putin. Andererseits ist er nicht mehr sowjetisch geprägt wie dieser, sondern ein Kind der Perestroika. Da muss man sehen: Was nimmt überhand?
Es gibt Spekulationen, dass er ohnehin nur der Platzhalter ist und Putin bald wieder in den Kreml wechseln will.
Ich halte es für nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht für ausgeschlossen. Ich kann mir vorstellen, wenn Putin merkt, das Ganze funktioniert nicht – entweder weil Medwedew es nicht in den Griff bekommt oder weil er nicht brav ergeben ist –, dass er auf die Notbremse tritt. Stellen Sie sich das vor wie bei einem Fahrlehrer: Medwedew sitzt am Steuer, aber Putin hat ein eigenes Pedal und kann jederzeit ins Steuer langen. Wenn Medwedew an die Wand fährt, wird Putin ihn austauschen – solange er das noch kann.
Wie ist denn die Stimmung jetzt in Russland?
Es gibt niemanden, der die Wahl für eine echte Wahl gehalten hat, aber die Leute sagen: Unter Putin ging es aufwärts, was wollen wir mehr.
Am Wochenende reist Bundeskanzlerin Angela Merkel an, um den neuen Präsidenten kennenzulernen. Was erwarten Sie?
Sie hat den Vorteil, dass sie als gelernte DDR-Bürgerin versteht, wie die Führung hier tickt. Sachen, die man Schröder nie hätte erklären können, versteht sie auf Anhieb. Es ist gut, dass sie sich gleich an Medwedew herantastet. Der Westen kann durchaus eine Rolle spielen und ihm sagen: Sie haben eine Chance. Aber dann darf das nicht nur Rhetorik sein.
Int.: tan
Der 36-jährige Moskau- Korrespondent des „Focus“ wurde für seine Arbeit mit der Theodor-Heuss- Medaille ausgezeichnet. Im April erscheint sein Buch über Dmitri Medwedew