Mariupol: "Es gibt kein Leben mehr"
Mariupol - Von Rauch verkohlte Häuserskelette, zertrümmerte und ausgebrannte Autos und geplünderte Geschäfte: In der umkämpften ukrainischen Hafenstadt Mariupol breitet sich das Grauen aus.
Die Flucht aus den umkämpften Städten ist gefährlich
Die Bilder der bombardierten Geburtsklinik und des zerstörten Stadttheaters sind allgegenwärtig. Zu Tausenden harren Menschen im Lärm von Detonationen in ihren Kellern aus - in Angst um ihr Leben. Wer kann, der flieht. Doch das ist gefährlich.
Über hunderttausend Menschen habe die Stadt verlassen
"Mein Haus brennt, alle zwölf Etagen", sagt ein Mann in einem im Internet kursierenden Video, während er das in Flammen stehende Gebäude am Prospekt Mira - der "Straße des Friedens" - filmt. "Kein Leben mehr."
Dann ist nur noch ein tränenersticktes Schluchzen zu hören. In der Stadt lebten einst rund 440.000 Menschen. Jetzt wird die Zahl der Einwohner noch auf etwa 300.000 geschätzt.
Weiter Beschuss und Straßenkämpfe in Mariupol
"Leider hört der Beschuss nicht auf in der Stadt. Es gibt ständig Straßenkämpfe", informiert der Telegram-Kanal "Mariupol jetzt" gestern die Bürger. Es werde alles getan, um Mariupol zu evakuieren. An den Tankstellen gibt es kaum Benzin, weshalb viele ihre Autos nicht betanken können.
Zehntausende aber haben es bereits geschafft. An den Autos in einer kilometerlangen Kolonne auf dem Fluchtkorridor von Mariupol Richtung Saporischschja flattern weiße Bändchen.
Das Fernsehen zeigt Menschen in den Autos, die sagen, es gebe kein Leben mehr in Mariupol. Männer müssen sich teils ausziehen. Russische Soldaten suchen nach ukrainischen Kämpfern. Demnach sollen sie durch typische blaue Flecke am Körper von Gewehrkolben und Druckstellen der Schutzwesten erkennbar sein. Etwa 100 seien schon gefasst, sagt ein russischer Kriegsreporter.
Hunger und Kälte prägen den Alltag
Zehntausende harren jedoch weiter in Bombenkellern aus, ohne Strom, fließend Wasser und Heizung - mitunter bei Minusgraden. Viele klagen über Hunger. Ein Mann sagt, er habe seit Tagen nicht einmal ein Stück Brot gehabt.
Andere bereiten auf der Straße am offenen Feuer warmes Wasser, Suppen und Brei zu. In einem Video sagt ein Mann: "Trauer und Verzweiflung haben diese Erde erfasst."
Rund 80 Prozent der Wohngebäude sind beschädigt
Seit Tagen verbreiten sich auch kaum überprüfbare Aufnahmen im Internet davon, wie Leichen in Gräben verscharrt werden. Die Behörden sprechen von mehr als 2.500 Toten. Rund 80 Prozent der Wohngebäude seien beschädigt, 30 Prozent könnten nur noch abgerissen werden.
Werden Ukrainer nach Russland verschleppt?
Entsetzt reagiert die Stadtverwaltung am Wochenende auf die Moskauer Fernsehberichte, viele Menschen aus Mariupol seien nach Russland geflohen. Zu sehen sind Menschen, die sich erleichtert zeigen, in Sicherheit zu sein. Die ukrainischen Behörden sprechen hingegen von Verschleppung.
Bürgermeister Wadym Bojtschenko vergleicht das Vorgehen mit dem Abtransport von Zwangsarbeitern während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. "Nicht nur, dass die russischen Truppen unser friedliches Mariupol vernichten, sie gehen noch weiter und haben begonnen, die Mariupoler aus dem Land zu bringen", sagt der 44-Jährige.
Verheerender Bombenangriff auf eine Kunstschule
Und das Sterben geht weiter: Am Wochenende ist laut Stadtrat die Kunstschule von Mariupol Ziel eines Bombenangriffes geworden. 400 Menschen hätten dort Schutz gesucht, darunter Frauen, Kinder und Ältere, teilt die Behörde bei Telegram mit. Das Gebäude sei bei der Attacke am Samstag zerstört worden. "Menschen liegen noch immer unter den Trümmern."
Wie viele Opfer es gegeben hat, ist unklar. Der Stadtrat macht russische Truppen dafür verantwortlich. Von unabhängiger Seite lässt sich das aber nicht überprüfen.

In Mariupol war zuletzt auch ein Theater angegriffen worden, in dem Menschen Schutz vor Luftangriffen gesucht hatten. Es wurden zwar Verschüttete gerettet. Seit Tagen ist aber unbekannt, wie viele Tote und Verletzte es bei diesem Vorfall gegeben hat.
Die Lage wird vielerorts immer prekärer
Auch in anderen ukrainischen Städten im Süden, Osten und in der Umgebung der Hauptstadt Kiew wird die Lage immer prekärer. Der Bürgermeister von Tschernihiw etwa, Wladislaw Atroschenko, schildert eine "absolute humanitäre Katastrophe" in seiner Stadt. "Dutzende Zivilisten werden getötet, Kinder und Frauen", sagt er im Fernsehen. Es gebe "keinen Strom, keine Heizung und keine Wasserversorgung".