LMU-Experte sicher: "Die große Mehrheit steht hinter Erdogan"

Am Sonntag wählt die Türkei einen Präsidenten und ein neues Parlament. Der derzeitige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP sind seit Jahren an der Macht und werden wohl auf Platz eins landen – doch ob sie auch die absolute Mehrheit halten können, ist fraglich.
Das Bild des türkischen Alleinherrschers bröckelt. Der Politikwissenschaftler Ludwig Schulz (von der LMU) über den Ausgang der Wahl, Erdogans Fehler und die Stimmung in der türkischen Bevölkerung.
AZ: Herr Schulz, wird Erdogan mit seiner Partei AKP am Sonntag die absolute Mehrheit verlieren?
LUDWIG SCHULZ: Erdogan braucht für die Präsidentschaftswahl zumindest die relative Mehrheit von über 50 Prozent. Es ist durchaus möglich, dass er das zumindest im ersten Wahlgang nicht schafft. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass er in der Stichwahl die Mehrheit bekommen wird. Laut Umfragen ist es auch unwahrscheinlich, dass die AKP die absolute Mehrheit bekommt.
Zu einem Regierungswechsel wird es aber nicht kommen?
Nein, das glaube ich nicht. Es gibt relativ wenig, was dafür spricht, dass Erdogan die Wahl verliert. Die große Mehrheit, vor allem die ländliche sowie die national-konservativ geprägte Bevölkerung steht weiterhin hinter ihm. Trotzdem sind ihm Fehler unterlaufen.
Was hat er falsch gemacht?
Die großen Themen sind die die Probleme der türkischen Wirtschaft, der Verfall der Lira, hohe Arbeitslosigkeit, die Inflationsrate, die sich bei den Verbrauchern bemerkbar macht. Erdogan wirkt nicht mehr als das Zugpferd.
Im Gegensatz zu seinem Gegenkandidaten Muharrem Ince von der größten Oppositionspartei CHP, der Erdogans Herausforderer in der Stichwahl werden könnte.
Ince wirkt jünger und dynamischer als frühere Herausforderer Erdogans und kommt zumindest in Teilen der Bevölkerung auch besser an als der verbraucht wirkende Präsident.
Welche Rolle spielt Erdogans Umgang mit Regimekritikern für die Bevölkerung?
Eine untergeordnete. Seine Anhänger sagen: Erdogan führt die Türkei im Kampf gegen alle inneren und äußeren Feinde an, mit Blick auf Terroranschläge oder den Syrien-Krieg. Ob der Ausnahmezustand anhält, ob Oppositionelle in Haft genommen oder Journalisten nicht freigelassen werden, ist für die Anhänger und leider damit auch für einen Großteil der Bevölkerung nebensächlich.
Erdogan hat angedeutet, dass er auch eine Koalition eingehen würde. Wie könnte die Regierung unter ihm aussehen?
In dem neuen präsidentiellen System ist der Präsident Anführer der Exekutive und der Verwaltung. Das Parlament kann über den Haushalt und einzelne Gesetze entscheiden und der Präsident kann am Parlament per Dekret vorbeiregieren. In diesem Parlament ist es dementsprechend auch nicht mehr so wichtig, dass die Regierung in der Mehrheit ist. Die AKP hat mit der ultranationalistischen MHP sowieso schon eine Art Koalition.
Wird es eine faire Wahl?
Fairness ist das große Manko, besonders im Wahlkampf. Die oppositionellen Kandidaten sind kaum in den staatlichen Medien präsent. Und wenn man den Kandidaten der pro-kurdischen Partei HDP Selahattin Demirtas betrachtet, der im Gefängnis sitzt, scheint hier Willkür zu herrschen, um Stimmen für ihn zu verhindern.
Wird sich die Spaltung der türkischen Gesellschaft fortsetzen?
Eigentlich wäre die Aufgabe des neuen Präsidenten, die Bevölkerung zusammenzuführen und auch das türkisch-kurdische Verhältnis zu kitten. Aber wenn der alte Präsident der neue wird, werden sich die Polarisierungen fortsetzen. Das ist Erdogans Politikstil, nach seinem Motto: "Ihr kennt mich, ihr wisst, wie ich bin und ich werde mich nicht ändern".