Ist die Ukraine ein Fußball, Herr Botschafter?
AZ: Herr Botschafter, am Sonntag spielt Deutschland gegen die Ukraine – wie geht's aus?
2:1.
Für Deutschland?
Für die Ukraine.
Okay.
Warum schmunzeln Sie?
Ich dachte, als Diplomat tippen Sie auf ein Unentschieden.
Hauptsache, es wird ein tolles und torreiches Spiel. (lacht)
Auf welche ukrainischen Spieler sollten die Zuschauer besonders achten?
Andrij Jarmolenko und Jewhen Konopljanka sind unsere Speerspitze. Man sollte die Ukraine nicht unterschätzen. Wir haben nichts zu verlieren, der Druck liegt auf Deutschland. Und in Freundschaftsspielen haben wir gezeigt: Wir haben etwas drauf.
Übersteht Ihr Land die Vorrunde?
Die Gruppe ist schwierig, aber die Chancen stehen gut.
Die Ukraine ist ein Fußball. Der Satz stammt von Altpräsident Leonid Krawtschuk und hat nichts mit Sport zu tun. Er meint damit, dass Ihr Staat von allen Seiten getreten werde. Hat er Recht?
Die Ukraine war jahrhundertelang sehr oft das Objekt im internationalen Geschehen – jetzt beginnen wir allmählich, zum Subjekt zu werden. Bei der Wende, auf dem Maidan, haben die Menschen gespürt, dass sie ihr Schicksal in die Hand nehmen können. Natürlich: Wenn wir über die Ukrainekrise reden – die de facto ein Krieg ist – sind wir auf die Partner angewiesen. Ich sehe uns dabei aber nicht als hilfloses Objekt, wir sitzen gleichberechtigt am Tisch, sind kein Spielball der großen Mächte.
Wie ist die Situation im Osten der Ukraine heute?
Sehr, sehr schwierig. Wenn ich „schwierig“ sage, dann meine ich, dass sich die Lage kaum beruhigt hat. Der Mai war der blutigste Monat – wir haben die meisten Opfer seit einem Jahr zu beklagen. Die Beschüsse dauern an, eine Befriedung ist nicht in Sicht.
Hat auch die Ukraine dazu beigetragen, dass der Minsker Friedensplan nicht funktioniert? Was ist mit den versprochenen Wahlen?
Die Ukraine hat viel mehr dazu beigetragen, als wir laut Minsker Plan hätten beitragen müssen. Wir haben den Entwurf eines Gesetzes über lokale Wahlen vorbereitet. Jetzt müssen die Separatisten zustimmen. Uns zu beschuldigen, dass die Wahlen nicht stattfinden können, ist falsch. Die Ukraine hat die Verfassungsänderung eingeleitet. Es gibt eine Mehrheit, aber es fehlt das Vertrauen, weil von der russischen Seite nichts getan wird. Waffenruhe, Abzug von Waffen, Söldnern – das alles wurde nicht realisiert. Die OECD hat keine Kontrolle.
Was kann man tun?
Damit es Wahlen geben kann, wäre eine internationale bewaffnete Polizeimission wünschenswert. Zurzeit ist die Ostukraine ein rechtsfreier Raum. Es herrschen Terrorgruppen. Wenn überall Männer mit Maschinengewehren herumlaufen, kann man den Menschen keine Wahlen zumuten. Das wäre eine Farce.
Sind Sie zufrieden mit der öffentlichen Wahrnehmung des Ukraine-Konflikts in Deutschland? Sympathien für Russland sind hier keine Seltenheit.
Wir haben auch Sympathien fürs russische Volk. Das sind unsere Nachbarn. Trotzdem sollte man nicht ausblenden, wer der Angreifer ist. Insgesamt ist die Wahrnehmung in Deutschland sehr ausgewogen und objektiv. Die meisten Deutschen wissen, dass es sich um eine Aggression von außen handelt, von Russland.
Ihre eigenen Extremisten – zum Beispiel den Rechten Sektor – sieht die Ukraine zu unkritisch, lautet ein Vorwurf.
Am Anfang konnte man diese Sorge nachvollziehen. Als der Krieg ausbrach und die Ukraine über keine reguläre Armee verfügte, haben diese Freiwilligenverbände eine wichtige Rolle gespielt, um dem Aggressor Paroli zu bieten. Jetzt sind die Verbände in die Armee, Nationalgarde oder Polizei eingegliedert. Der Staat trägt die Verantwortung.
Im Rechten Sektor marschieren zum Teil Rechtsradikale.
Das lässt sich schwer verallgemeinern. Es sind sehr verschiedene Menschen, viele, die auf dem Maidan demonstriert haben, sind dann direkt nach Osten weitergezogen, weil keiner da war, um das Land zu verteidigen. Gibt es Vorfälle oder Angriffe, wird ermittelt.
Die Ukraine will in die Nato – können Sie verstehen, dass diese Vorstellung Russland missfällt?
Wäre die Ukraine in der Nato gewesen, hätte es diesen Krieg und die Annexion der Krim nicht gegeben, weil Russland sich nicht getraut hätte – der Preis wäre zu hoch gewesen. Ja, die Ukraine will Teil der EU und der Nato werden. Denen, die das für eine Provokation halten, sage ich immer: Was sind die Optionen? Wird die Ukraine Nato-Mitglied, fügen wir uns in diese Gemeinschaft ein, übernehmen die Standards, verpflichten uns. Ansonsten müssen wir aufrüsten, und zwar massiv – das tun wir schon jetzt. Dann hat die Nato vor ihrer Haustür ein Land, das sich hochrüstet und über das man keine Kontrolle hat. Eine dritte Option, die wir nicht ausschließen können, wäre eine atomare Aufrüstung. Gegen Russland kann man sich sonst nur schwer verteidigen.
Eine atomare Aufrüstung? Ihr Land hat durch die Katastrophe von Tschernobyl erfahren, welches Leid durch diese Kraft ausgelöst werden kann.
In der Tat, die Ukrainer haben stark gelitten wegen des AKW-Unfalls, die langfristigen Folgen sind immer noch spürbar. Leider kann nur die atomare Abschreckung Russland davon abhalten, seine aggressive Politik weiter zu betreiben.
Was kann Deutschland zur Lösung des Konflikts beitragen?
Wir hoffen, dass Deutschland innerhalb der EU darauf pocht, dass die Sanktionen gegen Russland aufrecht erhalten werden. Man sagt immer: keine militärische Lösung – dem stimmen wir zu. Eine politische Lösung kann aber nur wirksam sein, wenn sie von Sanktionen untermauert wird.
Wo sehen Sie die Ukraine in fünf Jahren?
Am liebsten in der EU. Was den Konflikt betrifft: Den kann man nicht einfrieren. Scheitert die Politik, wird er weiterhin schwelen. Man kann die Region nicht ausgrenzen und hoffen, dass drei Millionen Menschen von alleine zum Frieden finden. Dieses Territorium hat keinen rechtlichen Status, ist ein schwarzes Loch in Europa. Unter diesen Umständen wird es keine Investitionen geben, keine Jobs, keine Perspektiven. Es wäre naiv zu glauben, dass die Russen ihre Truppen abziehen – aber nach einem wie auch immer gearteten Friedensschluss beginnt erst die Arbeit: Die Wunden müssen geheilt, zerstörte Gebiete wieder aufgebaut werden. Das wird Anstrengungen kosten, und auch Geld. Wir bleiben optimistisch.
Wie nehmen Sie die Flüchtlingskrise wahr?
Wir bewundern, was die deutsche Gesellschaft geleistet hat und leistet. Auch wir haben eine Flüchtlingskrise – vor allem durch Binnenflüchtlinge, die auf der Flucht sind aus den Kriegsgebieten im Osten. 1,7 Millionen Menschen haben ihre Heimat, ihre Häuser, ihre Wohnungen hinter sich lassen müssen. Und warten darauf, dass eine politische Lösung zustande kommt.
Auch hierzulande wird mit der Politik gehadert.
Die deutsche Politik hat in der Flüchtlingskrise – so glauben wir – schnell reagiert: mit dem Integrationsgesetz und mit anderen Maßnahmen. Der Flüchtlingsstrom ist in geordnete Bahnen gelenkt worden, die Maßnahmen greifen, das spürt man. Ich glaube, dass die deutsche Gesellschaft in der Lage ist, diese Jahrhundertaufgabe zu meistern. Wir sagen: Hut ab, Deutschland! Euer Beispiel macht Mut. Auch den anderen Ländern.
Davon ist nicht viel zu spüren – insbesondere im Osten Europas herrscht häufig eine Verweigerungshaltung.
Wir beobachten kritisch, was da geschieht. Solidarität ist das höchste Gut der EU. Polen, die Slowakei, Tschechien – das sind alles Länder, die von der Solidarität in der Gemeinschaft profitiert haben, politisch und vor allem auch wirtschaftlich. Deshalb ist die Erwartung der deutschen Seite, dass sich diese Länder stärker engagieren, durchaus legitim.
In Deutschland gibt es angesichts der Flüchtlingskrise Sorgen und Ängste. Sind die unberechtigt?
Ich kann verstehen, wenn sich Menschen sorgen. Kommen Flüchtlinge in großer Zahl und keiner weiß, wie weit sie integrierbar sind, dann sind natürlich Ängste vorhanden – das ist menschlich und nachvollziehbar. Umso stärker sind die Verantwortlichen gefordert. Auch hier liegen aber Welten zwischen dem, was Deutschland getan hat und dem, was Politiker in anderen europäischen Ländern tun.
Würde auch die Ukraine syrische Flüchtlinge aufnehmen?
Der ukrainische Staat ist derzeit schon durch die hohe Zahl der Binnenflüchtlinge überfordert. Der Gedanke an Humanität ist uns aber nicht fremd. Mit den Erfahrungen, die wir in den vergangenen zwei Jahren gesammelt haben, kann man sich alles Mögliche vorstellen.
Die EU hat den Ukrainern Reisefreiheit in Aussicht gestellt.
Das ist ein Hoffnungsschimmer für viele Menschen. Wir haben zwei Jahre hart an den hohen Anforderungen gearbeitet, die die Kommission gestellt hat. Jetzt sind die Mitgliedsstaaten am Zug. Angesichts der Flüchtlingskrise gestaltet sich der Prozess schwierig.
Sie meinen die Befürchtung, dass Ihre Landsleute massenhaft in die EU einwandern.
Das wird nicht passieren. Die Deutschen wollen zudem einen Mechanismus einbauen, der bei Missbrauch einen Stopp ermöglicht. Abgesehen davon verhält sich die Ukraine zum Beispiel bei Abschiebungen – im Gegensatz zu anderen Ländern – sehr kooperativ.
Wie viele Ukrainer leben zurzeit in Deutschland?
130 000 ukrainische Staatsbürger und vielleicht genauso viele, die eingebürgert sind. Die Community ist nicht klein. Wir sind ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Das macht uns stolz.
- Themen:
- Europäische Union
- Nato
- Polizei