Israel nach Rückkehr der Geiseln im Freudentaumel

Nach 738 Tagen Geiselhaft kehren auch die letzten Verschleppten heim nach Israel. Die Erleichterung der Familien ist riesig. Doch neben den Freudentränen bleiben auch Sorgen.
Sara Lemel, dpa |
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An dem Schicksal der während des Hamas-Massakers in den Gazastreifen verschleppten Geiseln hat ganz Israel emotional tief Anteil genommen.
An dem Schicksal der während des Hamas-Massakers in den Gazastreifen verschleppten Geiseln hat ganz Israel emotional tief Anteil genommen. © Emilio Morenatti/AP/dpa
Tel Aviv

Auf dem "Platz der Geiseln" in Tel Aviv haben Zehntausende Israelis die Freilassung der verbliebenen 20 Geiseln - darunter auch vier mit deutscher Staatsangehörigkeit - ausgelassen gefeiert. Ein bekannter Aktivist der Protestbewegung, die unermüdlich für die Entführten gekämpft hatten, verteilt nach der Übergabe Plastikbecher und spritzt mit Sekt aus einer Flasche um sich. Die Menge schreit begeistert, als Hubschrauber mit den freigelassenen Geiseln auf dem Weg in ein nahegelegenes Krankenhaus über den Platz fliegen. 

"Ich bin schon seit gestern Abend hier, ich bin extra aus Haifa gekommen", erzählt der 37-jährige Daniel Colodro, der in eine Fahne gehüllt ist. "Das ist ein historischer Tag, deshalb wollte ich hier vor Ort sein", sagt der Einwanderer aus Chile. "Wir haben zwei Jahre lang darauf gewartet, deshalb wollte ich dies mit all den Menschen hier erleben. Endlich können wir durchatmen."

Ausbruch der Freude nach Freilassungen

Im Fernsehen werden Bilder von Angehörigen übertragen, die mit großer Freude und Erleichterung auf die Rückkehr ihrer Liebsten nach 738 Tagen brutaler Geiselhaft reagieren und sie wieder in die Arme schließen. Auf einem der Videos ist Einav Zangauker zu sehen, eine der bekanntesten Aktivistinnen der Protestbewegung für die Freilassung der Geiseln. "Mein Leben, mein Leben", ruft sie immer wieder, während sie ihren Sohn an sich drückt. 

Lautes Schluchzen ist in einem weiteren Video zu hören, als es dem Vater von Bar Kuperstein nach monatelangem Training gelingt, aus dem Rollstuhl aufzustehen, um seinen Sohn in den Arm zu nehmen. Nach einem Schlaganfall muss der Mann auch um jedes Wort kämpfen, das er sagen will. Auf anderen Videoaufnahmen des Militärs ist zu sehen, wie der Deutsch-Israeli Rom Braslavski nach seiner Freilassung Tränen der Erleichterung vergießt. 

"Wir sind alle unglaublich bewegt", sagt Danielle Aloni, die selbst Geisel der Hamas war. Sie ist die Schwägerin von David Cunio, einem der insgesamt 20 noch lebenden Geiseln. "Ein Traum ist in Erfüllung gegangen, es ist unbeschreiblich", sagt sie dem israelischen TV-Sender N12. 

Israelis sind Trump dankbar

Auf dem Platz in Tel Aviv ist die große Dankbarkeit gegenüber US-Präsident Donald Trump spürbar, der Israel und die islamistische Terrororganisation Hamas dazu bewegt hat, nach zwei Jahren des verheerenden Krieges endlich einer Waffenruhe zuzustimmen. Ein Mann zieht einen Einkaufswagen voller amerikanischer Flaggen über den Platz, die er dort verkauft.

An dem Schicksal der Geiseln, die während des beispiellosen Massakers der Hamas am 7. Oktober 2023 verschleppt worden waren, hat ganz Israel emotional tief Anteil genommen. Nach der Mitteilung über die bevorstehende Freilassung waren selbst hartgesottene TV-Moderatoren in Tränen ausgebrochen. 

Als besonders symbolisch gilt, dass die Geiseln, die bei dem völlig überraschend kommenden Angriff vor zwei Jahren am jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora) entführt worden waren, nun wieder an demselben Feiertag freigekommen sind. 

Auf dem Platz der Geiseln hängen an gelben Bändern Hunderte von Briefen, die Bürger den Geiseln geschrieben haben. "Was für eine Freude, dass Ihr wieder nach Hause kommt", steht in krakeliger Kinderschrift in einem davon. 

Persönliche Gegenstände sollen Freigelassenen helfen

Die Familien der Geiseln haben für ihre Rückkehr nach Israel persönliche Gegenstände vorbereitet, um den Übergang zu erleichtern. Das für die Geisel Matan Angrest vorbereitete Zimmer im Krankenhaus ist etwa mit Insignien von Maccabi Haifa geschmückt - seinem liebsten Fußballclub. 

Die Mutter von Elkana Bohbot erzählte, man habe sie auf mindestens fünf Tage im Krankenhaus nach der Freilassung ihres Sohnes vorbereitet. "Aber es gibt Dinge, die man nicht vorbereiten kann." Stattdessen müsse man dem Herzen folgen, sagt sie. 

Sorge vor gesundheitlichen und psychischen Folgen

Die Freude ist groß, aber nicht ungetrübt. Experten warnten etwa vor einer Überernährung der Geiseln, die sehr lange unter Hunger gelitten hatten, kurz vor der Freilassung durch die Hamas. Es drohe das sogenannte "Refeeding-Syndrom" - bei dem der Organismus durch zu viel Nahrung in kurzer Zeit überlastet werden könne. 

Professor Itai Pesach vom Schiba-Krankenhaus, in dem einige der Freigelassenen aufgenommen werden sollten, sagte: "Wir sind auf jede medizinische und menschliche Lage vorbereitet. Das Wichtigste ist, dass sie wieder zurückkommen." Man habe der Hamas über das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) die Bitte übermittelt, die Geiseln in den Tagen vor ihrer Freilassung nicht plötzlich zu "mästen". Von den Terrorgruppen veröffentlichte Videos von Geiseln, die bis auf die Knochen abgemagert waren, hatten im Sommer in Israel für tiefe Verstörung gesorgt. 

Auch die massiven psychologischen Folgen des Traumas auf für die Freigelassenen dürfen nicht unterschätzt werden. Zuletzt hatte sich ein Überlebender des Nova-Musikfestivals das Leben genommen - zwei Jahre nach seiner Rettung. 

Hunger nach menschlicher Wärme

Die ehemalige Geisel Omer Schem Tov erzählte dem Sender N12 von den ersten Momenten nach seiner Freilassung. Er war bei der letzten Waffenruhe zu Jahresbeginn freigekommen. "Ich war 450 Tage lang allein", sagt er. Er sei hungrig nach menschlicher Wärme und körperlicher Nähe gewesen. Eine israelische Offizierin sei damals die Erste gewesen, die ihn in die Arme genommen habe. "Diese Umarmung werde ich mein Leben lang nicht vergessen."

Proteste sollen erst nach Übergabe aller Leichen enden

Doch es gibt auch Familien, deren entführte Angehörige nicht lebend zurückkommen werden. Teil der Vereinbarung ist auch die Übergabe von 28 Leichen. Die größte Sorge dieser Angehörigen ist es, dass die sterblichen Überreste ihrer Liebsten in den Trümmern des weitgehend zerstörten Gazastreifens nie gefunden werden könnten. In diesem Fall ist vereinbart, dass ein internationaler Suchtrupp alles unternimmt, um auch die restlichen Leichen in dem Küstenstreifen zu finden und zu bergen. 

Bis dahin sollen auch die Proteste auf dem Platz der Geiseln weitergehen. "Alle müssen zurückgebracht werden - die Toten und die Lebenden", fordert Daniel Colodro. "Wir können jetzt nicht aufhören."

Hinweis: Diese Meldung ist Teil eines automatisierten Angebots der nach strengen journalistischen Regeln arbeitenden Deutschen Presse-Agentur (dpa). Sie wird von der AZ-Onlineredaktion nicht bearbeitet oder geprüft. Fragen und Hinweise bitte an feedback@az-muenchen.de

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