Irak: Angst vor einem Flächenbrand
Radikale Sunniten rücken auf Bagdad vor – Schiiten rufen zum Dschihad
Bagdad - „Das eskaliert dramatisch schnell“, sagte das Welternährungsprogramm WFP am Freitag zum Irak. Gemeint war die humanitäre Lage der Flüchtlinge, aber es passt genauso gut auf alle anderen Aspekte. Aus international kaum beachteten Scharmützeln ist eine große Krise geworden: Dem Irak drohen der Zerfall und ein neuer Bürgerkrieg, die USA und der Iran denken über ein Eingreifen nach. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière: „Uns macht die Lage allergrößte Sorge.“
Auslöser ist der rasante Vormarsch der Isis-Milizen: Sie haben große Teile des Nordens und Westens des Iraks unter ihre Kontrolle gebracht, zudem einen Korridor in Syrien – und die Isis-Gebiete in Syrien und im Irak hängen zusammen. Das macht vielen Experten Sorge: Die Kämpfer wollen die alten Grenzen auflösen und einen neuen Staat schaffen (daher der Name Isis: Islamischer Staat im Irak und Syrien). Das kann angesichts ihrer Schlagkraft Schockwellen für die ganze Region haben. Ursprünglich wurde Isis von Geldgebern aus dem Golf für den Kampf in Syrien gepäppelt, nun ist sie stark genug, um unabhängig zu agieren: Allein bei der Eroberung der irakischen Stadt Mossul soll die Terrorgruppe 318 Millionen Euro in der örtlichen Zentralbank erbeutet haben.
Und der Vormarsch der radikalen sunnitischen Kämpfer geht weiter – am Freitag wurden sie 60 Kilometer vor Bagdad von der regulären irakischen Armee gestoppt. Nun versuchen die Isis-Milizen, die Hauptstadt von mehreren Seiten einzukreisen. Für eine vollständige Umzingelung oder gar Eroberung hat die Isis mit ihren rund 15000 Mann zwar nicht genug Kämpfer, aber der Vorstoß macht die Lage noch explosiver. Denn während die sunnitische Isis bisher mehrheitlich sunnitische Gebiete unter Kontrolle brachte und dort auf vergleichsweise wenig Widerstand stieß, hat sie nun mehrheitlich schiitisches Gebiet erreicht.
Und der schiitische Großayatollah Ali al-Sistani hat nun beim Freitagsgebet schon zum Dschihad gegen die Sunniten aufgerufen. „Ihr müsst die Heiligen Stätten verteidigen.“ Auch das Nachbarland Iran ist mehrheitlich schiitisch – und hat dem ebenfalls schiitischen Regierungschef Nuri al-Maliki bereits Hilfe angeboten. Nach US-Presseberichten sind bereits erste iranische Elite-Truppen auf dem Weg in den Irak.
Auch US-Präsident Barack Obama sagte, er schließe bei Überlegungen über eine Reaktion auf den Isis-Vormarsch „keine Option“ aus. „Ich will sicherstellen, dass die Extremisten gestoppt werden.“ Mit Blick auf al-Maliki, den die USA seit Jahren vergeblich auffordern, die Sunniten mit einzubinden, sagte er: „Dies sollte ein Weckruf für die irakische Regierung sein.“ Andererseits hat Obama ja gerade den Irak-Einsatz der US-Armee beendet und wollte sein Land rausziehen aus diesem Konflikt – aber einem Zerfall will er offenbar nicht zusehen.
Dann kommen noch die Kurden ins Spiel, die im Norden eine stabile Autonomie-Region haben. Sie mobilisieren ihre Peschmerga-Kämpfer als Schutz gegen die Isis. Womöglich mit dem Hintergedanken, in der allgemeinen Neuordnung die eigene Unabhängigkeit zu erreichen.