Intelligente Verteidigung: NATO erfindet sich neu
Chicago - NATO-Raketenschild, gemeinsame luftgestützte Bodenaufklärung und eine Liste mit einem Dutzend weiterer multinationaler Projekte: Die NATO macht ernst mit der in Lissabon 2010 angekündigten Modernisierung. Angesichts der Sparzwänge in allen Mitgliedsstaaten fiel den 28 Partnern in Chicago die Verständigung auf lang diskutierte Projekte leicht. „Hier liefern wir“, erklärt stolz Anders Fogh Rasmussen, der NATO-Generalsektretär. Er gilt als geistiger Vater von „smart defence“, von intelligenter Verteidigung in Zeiten knapper Kassen.
Doch sehen Militärexperten den verkündeten „neuen Schwung“ des weltweit größten Militärbündnisses mit Skepsis. „Hier wird nur zusammengeführt, was wir ohnehin schon haben“, sagt ein hoher NATO-Offizier. Ein von Militärs immer wieder geforderter Durchbruch sei das nicht. Vieles sei eher „neuer Wein in alten Schläuchen“. Doch reagiere die Politik wenigstens auf die bitteren Erfahrungen in Afghanistan, Irak und Libyen.
Raketenabwehr made in USA
Beispiel Raketenabwehr: In Chicago erklärte das Bündnis die sogenannte Übergangsbefähigung, die Rasmussen als „ersten Schritt“ auf dem Weg zum Schutz der europäischen Bevölkerung vor ballistischen Raketen bezeichnet. Doch bedeutet das nichts anderes, als dass zunächst US-Raketen und US-Radarstationen unter ein US-besetztes NATO-Kommando kommen. Und da die Reichweite des Schildes auf absehbare Zeit begrenzt bleibt, müssen die Staaten definieren, was sie von den USA eigentlich schützen lassen wollen.
Beispiel Bodenaufklärung AGS: Eine umfassende Gefechtsfeldaufklärung in Echtzeit wünschen sich die Militärs seit langem. Gerade im Libyen-Krieg wurde sich die NATO schmerzlich einer mangelnden Aufklärungsfähigkeit von beweglichen, kleinen Zielen bewusst. Doch auch hier muss das Bündnis auf US-amerikanische Drohnen zurückgreifen, die in Zukunft das richten sollen, was die einzelnen Mitglieder nicht können. Der Lichtblick: Wie die AWACS-Flugzeuge zur Luftraumüberwachung werden die Drohnen von allen NATO-Partnern gemeinsam betrieben.
Beispiel Air Policing: Die in nationaler Hoheit liegende Luftraumüberwachung soll künftig regional geregelt werden. Das wird im Baltikum nur schon seit Jahren schon so gemacht. Wegen der Angst vor einer russischen Bedrohung übernehmen seit 2005 bereits die NATO-Partner das Air Policing, da die drei Länder Estland, Lettland und Litauen über keine eigenen Jagdmaschinen verfügen.
Ein neues, altes Verteidigungspaket
Mehr als 20 multinationale Projekte hat die NATO in Chicago auf den Weg gebracht. Aber im Endeffekt sind es „liegen gebliebene Hausaufgaben“, kritisieren Militärs mit Blick auf Afghanistan und Libyen. So habe die Allianz am Hindukusch schon seit Jahren gelernt, was Sprengfallen anrichten, und will sich erst jetzt – am Ende des Einsatzes – mit Robotern zur Entschärfung ausrüsten. Gleiches gilt für Luftbetankung oder strategischen Lufttransport. Und in Libyen habe sich erneut gezeigt, dass ohne gemeinsame Schnittstellen für Munition die beste nationale Bevorratung nichts taugt. Dies sei schon in Afghanistan festgestellt worden – nur ohne Konsequenz.
Bleibt die große Überschrift „Connected Forces Initiatve“ – also die verstärkte gemeinsame Übung der nationalen Streitkräfte. Auch das ist nicht neu und wird von NATO-Diplomaten belächelt. Die Militärs indes begrüßen das, ist doch mit Afghanistan das Ende des letzten Großeinsatzes absehbar. Bereit zu sein ist alles, betont ein NATO-General und sagt: „Die Relevanz der NATO muss nicht durch Einsätze bewiesen werden.“
Wie dem auch sei: Rasmussen ist stolz auf diesen 25. Gipfel der Allianz. Mit Chicago komme endlich eine „neue Kultur der Kooperation“, die künftig Doppelstrukturen vermeiden könne, sagt er. Und weiß, nach Jahrzehnten immer weiter steigender Rüstungsausgaben zwingt die Schuldenkrise auch das weltweit größte Militärbündnis zum Umdenken. NATO Forces 2020 nennt sich das neue Motto: Es wird beschafft, was gebraucht wird – und was bezahlt werden kann.
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