Gastbeitrag zu den Nürnberger Prozessen: Die schwierige Erinnerung

Vor 75 Jahren begannen die Nürnberger Prozesse. In der Bundesrepublik tat man sich lange schwer mit der Würdigung dieses historischen Ereignisses. Historikerin Annette Weinke schildert den Ablauf des Prozesses gegen NS-Kriegsverbrecher und seine Nachwirkungen.
von  Annette Weinke
Die Spitzen des unmenschlichen NS-Staats, die den Krieg überlebt haben, sitzen auf der Anklagebank.
Die Spitzen des unmenschlichen NS-Staats, die den Krieg überlebt haben, sitzen auf der Anklagebank. © imago images/Reinhard Schultz

Noch vor Beginn des großen Prozesses gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher kamen die Vorbereitungen das erste Mal ins Stocken. Während des Sommers 1945 hatten die drei Westmächte und die Sowjetunion beschlossen, die Eröffnungssitzung in der gemeinsam besetzten Reichshauptstadt abzuhalten.

Ort des Prozesses: Der Justizpalast in Nürnberg

Erst danach wollten die Juristen und deren engste Mitarbeiter an den eigentlichen Gerichtsort umziehen. Die Wahl war auf den Nürnberger Justizpalast an der Fürther Straße gefallen, eines der wenigen intakten Gerichtsgebäude in den zerbombten deutschen Großstädten.

Zwar konnte die erste öffentliche Sitzung am 18. Oktober 1945 tatsächlich wie geplant in Berlin stattfinden. Doch auf dem Rückflug geriet eine Maschine in so heftige Turbulenzen, dass sie nach London abdrehen musste. Deshalb trafen die britischen Richter, unter ihnen auch der Gerichtsvorsitzende Sir Geoffrey Lawrence, erst mit mehrwöchiger Verspätung in der amerikanisch besetzen Zone ein.

Die Historikerin Annette Weinke arbeitet an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist stellvertretende Leiterin des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts
Die Historikerin Annette Weinke arbeitet an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist stellvertretende Leiterin des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts © ho

Prozess beginnt mit Rede von Chefankläger Jackson

Mittlerweile hatten die verbliebenen Prozessparteien die Zeit genutzt, letzte Vorbereitungen zu treffen. Auch die Umbauarbeiten, mit denen der Landschaftsarchitekt Daniel Urban Kiley den gründerzeitlichen Hauptgerichtssaal 600 architektonisch wie technisch auf den neuesten Stand der Zeit brachte, waren abgeschlossen.

Mit einer fulminanten Rede, die der historischen Tragweite des Ereignisses entsprach, eröffnete Chefankläger Robert H. Jackson dann am 20. November die Verhandlungen gegen 24 deutsche Angeklagte der früheren Partei- und Staatsführung. Einen Tag später liefen die Übersetzungsmaschinerien des Simultandolmetschens an, die die amerikanische Firma IBM dem Gericht kostenlos zur Verfügung gestellt hatte.

Historische Verhandlung in mehreren Sprachen

Jene Innovation war entscheidend für den Erfolg des Verfahrens. Erstmals in der Geschichte der modernen Strafjustiz konnten Verhandlungen gleichzeitig in mindestens vier Sprachen geführt werden. Damit wurde der Prozessstoff für das internationale Publikum anschaulich, die Aburteilung der Verbrechen des "Dritten Reichs" geriet so zur Angelegenheit einer größeren Weltöffentlichkeit. Offiziell lag die Regie über das Verfahren bei den vier alliierten Siegermächten.

Weil vor allem die Sowjetunion und Frankreich massiv unter den Auswirkungen der NS-Besatzungspolitik gelitten hatten - allein die Sowjetunion verzeichnete 27 Millionen Tote - lag es nahe, dass beide Länder die Anklagen wegen "Kriegsverbrechen" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" übernehmen sollten. Amerikaner und Briten waren für die Anklageerhebungen wegen "Verbrechen gegen den Frieden und Verschwörung zum Krieg" zuständig.

Hauptzweck des Verfahrens: "Frieden durch Recht"

Im Vorfeld hatte es ein zähes Tauziehen über weitere mögliche Prozessbeteiligte gegeben. Die Kompromisslösung sah vor, dass die Franzosen im Namen der Benelux-Staaten, Dänemark und Norwegen anklagten, während die sowjetische Anklagebehörde die Interessen Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens vertreten sollte. Jüdische Organisationen, die mit ihrer Expertise wesentlich am Zustandekommen des Tribunals beteiligt gewesen waren, waren lediglich als passive Beobachter und Berater zugelassen.

Sowjetisch-amerikanischer Druck und eine zeitweilig vorhandene Interessenübereinstimmung zwischen den ungleichen Verbündeten sorgte dafür, dass es die Nürnberger Richter mit einem heterogenen Kreis von Angeklagten zu tun bekamen: Neben hochrangigen NS-Funktionären wie Göring, Heß und Rosenberg und führenden Köpfen des parteilichen Terrorapparates wie dem früheren RSHA-Chef Ernst Kaltenbrunner saßen mit Wilhelm Keitel und Alfred Jodl auch Angehörige der Generalität mit auf der Anklagebank. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht wurde als Vertreter der deutschen Wirtschaft angeklagt. Amerikaner und Sowjets bewerteten den "Primat der Ökonomie" übereinstimmend als wichtigen Stabilitätsfaktor des NS-Systems.

Es galt, konkrete Verantwortlichkeiten zu benennen

Dennoch überwogen die Unterschiede zwischen ihnen bei weitem. Während es für die - von Moskauer Vorgaben abhängige - sowjetische Anklagevertretung darum ging, eine bereits vorab feststehende Täterschaft öffentlich zu machen und eigene Völkerrechtsverstöße zu verschleiern, war den Amerikanern sehr wohl bewusst, dass dieser "Jahrhundertprozess" zum politischen Bumerang werden würde, sollte es nicht gelingen, den Angeklagten auch eine individuelle Schuld nachzuweisen.

Insofern bemühte man sich darum, konkrete Verantwortlichkeiten und Handlungsspielräume zu benennen. Dafür nutzte man Zehntausende Geheimdienstberichte und regierungsamtliche Beweisdokumente, die während des Vormarschs auf das Deutsche Reich beschlagnahmt worden waren.

NS-Kriegsverbrecher werden verurteilt - nach 216 Prozesstagen

Am 1. Oktober 1946 wurden nach insgesamt 216 Prozesstagen die Urteile gegen die verbliebenen Hauptkriegsverbrecher gefällt. Die Hinrichtungen wurden zwei Wochen später im angrenzenden Zellentrakt vollstreckt. Um einen befürchteten nationalistischen Totenkult im Keim zu erstecken, streute man die Asche der Exekutierten in den Münchner Konventsbach.

Auf internationaler Ebene fanden die Urteile im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess regen Zuspruch. In ihren "Nürnberger Prinzipien" bekräftigte die Vollversammlung der Vereinten Nationen 1950, dass auch Staatsoberhäupter künftig keinen Schutz vor völkerstrafrechtlicher Verfolgung mehr genießen. Auch für den weltweiten Kampf gegen Rassenhass, Antisemitismus und die Diskriminierung von Minderheiten galt das International Military Tribunal (IMT) zeitweilig als wichtige Inspirationsquelle.

Stimmung gegen Entnazifizierung in Deutschland

In Deutschland bewegten sich die Reaktionen laut Einschätzungen der amerikanischen Demoskopen im Spektrum von wohlwollend bis desinteressiert. Doch bald wendete sich die Stimmung gegen Strafprozesse und Entnazifizierung. Als Stichwortgeber für die nun beginnende Agitation gegen "alliierte Siegerjustiz" und das "System von Nürnberg" traten vor allem die deutschen Verteidiger auf.

Für die deutsche Geschichtswissenschaft galt der Nürnberger Prozess als Ereignis, dessen man sich nur unter Vorbehalt erinnern mochte. Im monumentalen Reigen 120 "deutscher Erinnerungsorte", so der Titel eines berühmten Geschichtswerks aus dem Jahr 2001, fehlte ein eigener Beitrag zum Hauptkriegsverbrecherprozess.

Die Nürnberger Prozesse hallen nach

Von dieser jahrzehntelangen Tradition deutscher Skepsis und Abwehr, gegründet in einer heute schwer nachvollziehbaren Identifikation mit verurteilten NS-Tätern, ist inzwischen kaum noch etwas zu spüren. Der bayerische Staat und die Stadt Nürnberg sind zu Vorreitern der Erinnerung an das IMT geworden.

Zu diesem Zweck hat man eine - mit Bundesmitteln geförderte - Akademie "Nürnberger Prinzipien" gegründet. Ein eigenes Museum würdigt die Pionierleistungen und bleibenden Verdienste des Tribunals. Zu den Ausstellungsexponaten zählt auch eine von Kileys modernistischen Birkenholz-Bänken. Mit einer Verspätung von einem Dreivierteljahrhundert ist das IMT damit tatsächlich zu so etwas wie einem "deutschen Erinnerungsort" geworden.


In der Reihe "C.H. Beck Wissen" erschien Annette Weinke: "Die Nürnberger Prozesse" (128 Seiten, 9,95 Euro)

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