Franz Maget: "Es wird einen neuen Arabischen Frühling geben"
München - AZ-Interview mit Franz Maget: Der Münchner (66) saß von 1990 bis 2013 für die SPD im Bayerischen Landtag, war dessen Vizepräsident und lange SPD-Fraktionschef. Anschließend wagte er etwas völlig Neues - und wurde von 2016 bis 2018 Sozialreferent an den Deutschen Botschaften in Tunis und Kairo. Heute berät er das Bundesministerium für Entwicklung.
AZ: Herr Maget, Tunesiens Parlament ist völlig zersplittert, in Ägypten herrscht eine Militärdiktatur, Libyen ist ein failed state - und den Krieg in Syrien scheint der alte Machthaber zu gewinnen. Ist die "Arabellion" gescheitert?
FRANZ MAGET: Die meisten Hoffnungen und Erwartungen, die man hatte, haben sich nicht erfüllt. Insofern kann man in der Tat sagen: Der Arabische Frühling ist eine gescheiterte Revolution. Aber er war auch eine Zeitenwende, weil es der Bevölkerung zum ersten Mal in der arabischen Welt gelungen ist, Diktatoren zu stürzen: Schon vier Wochen nach dem Beginn des Arabischen Frühlings in Tunesien musste der Diktator Zine el-Abidine Ben Ali das Land verlassen - und das Land konnte einen Weg in die Demokratie finden. Dieses Zeichen gilt bis heute.

Was waren die Gründe für das Scheitern?
In Tunesien ist der Arabische Frühling nicht wirklich gescheitert, sondern war im Kern erfolgreich: Der Diktator wurde gestürzt. Das Land hat heute eine Verfassung, die keinen Vergleich mit einer europäischen demokratischen Verfassung scheuen muss. Es gibt eine offene Gesellschaft mit Meinungsfreiheit und freiem Journalismus, mit Frauenrechten und der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Mittlerweile haben drei Parlamentswahlen stattgefunden, die nicht gefälscht waren, sondern frei. Zwei Präsidenten wurden direkt vom Volk gewählt und seit zwei Jahren auch die Kommunalpolitiker. Das ist eine absolute Besonderheit für die arabische Welt. In Tunesien ist es gelungen, eine Demokratie in einem islamischen Land zu realisieren.
"Die Muslimbrüder nennen sich jetzt Muslimdemokraten"
In vielen anderen Ländern der Region leider nicht.
Dort waren die Umstände andere. In Marokko stand der König nie im Zentrum der Angriffe. Die Monarchie ist dort relativ unumstritten. Daher konnte Mohammed VI. durch vorsichtiges Taktieren und Entgegenkommen der Revolution die Spitze nehmen. In Ägypten gewann im Grunde der Falsche die erste Präsidentenwahl: Mohammed Mursi, ein Vertreter der Muslimbruderschaft. Deren Gegner wollten jedoch verhindern, dass die ägyptische Gesellschaft noch konservativer islamisch wird. Deshalb hat ihn schon nach eineinhalb Jahren eine Koalition aus Kopten, säkularen Ägyptern und Militärs gestürzt.
Welche Rolle spielten die Golfmonarchien dabei, also Saudi-Arabien und die Emirate?
In Ägypten haben sie den Gegenputsch finanziert. Die Golfmonarchien waren von Anfang an beunruhigt darüber, was da in der arabischen Welt passiert. Demokratie und freie Wahlen sind das Letzte, was sie sich wünschen oder überhaupt vorstellen können. Deshalb haben sie zwei Dinge immer bekämpft: Demokratiebewegungen und die Parteien der Muslimbrüder.
Warum Letztere?
Weil die Muslimbrüder eine islamische Formation sind, die sich am demokratischen Prozess beteiligen möchte. Das sind keine religiösen Spinner oder Fundamentalisten, sondern Leute, die sich - wie in Marokko, Algerien, Tunesien und anfangs, als es noch möglich war, in Ägypten - an Wahlen beteiligen und versuchen, über Mehrheiten im Parlament mehr islamische Elemente in die Rechtsordnung einzubringen. Das gefällt den Saudis nicht. Wahlen sind Gift für sie.
Die Muslimbrüder werden häufig als Terrororganisation bezeichnet. In Ihrem Buch verwehren Sie sich gegen diese Einstufung. Warum?
Ich hatte in Tunesien viel Kontakt zu Muslimbrüdern, die sehr gut von einer US-Agentur beraten werden und sich seit einigen Jahren Muslimdemokraten nennen. Sie sagen: "So etwas gibt es doch in Deutschland auch! Bei Euch heißen die Christdemokraten, weil das Eure Religion ist. Die CDU ist eine demokratische Partei, die auf ihre religiösen Wurzeln verweist - und dasselbe gilt für uns." Trotzdem sind die Muslimbrüder mit Vorsicht zu genießen. Man sieht das am Beispiel Recep Tayyip Erdogans in der Türkei, der derzeit eigentlich der ideologische Anführer der Muslimbruderschaft ist. Er hat auch als Demokrat angefangen. Doch nach einiger Zeit hat er versucht, die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei stärker in Richtung islamischer Staat zu drücken.
Muslimbrüder: Unterschiede in den einzelnen Ländern
Wie unterscheiden sich die Muslimbrüder in den einzelnen Ländern?
Stark. Tunesiens führende Muslimbrüder waren während der Herrschaft von Ben Ali im Exil und haben dort oft exzellente Universitätskarrieren gemacht. Nach dem Sturz des Diktators 2011 kamen sie zurück als Ärzte aus London oder Anwälte aus Paris. Die Muslimbrüder in Ägypten hingegen saßen zu Zeiten von Hosni Mubarak entweder im Gefängnis oder sie kommen aus sehr einfachen, sehr konservativen Verhältnissen und ticken deutlich vorsintflutlicher. Sie wollten Ägypten sofort zu einem islamischen Land machen: Das Heiratsalter senken, Verschleierung verlangen - es war ein ganzer Katalog, mit dem sie sich den Widerstand der säkularen Kräfte und des Militärs eingebrockt haben. Ich vertrete dennoch die These, dass es politische Stabilität in den meisten arabischen Ländern nur geben wird, wenn man religiöse Kräfte miteinbindet. Schließlich hat sich bei allen Wahlen gezeigt: Die schneiden verdammt gut ab.
Woher rührt diese Zustimmung der Menschen zu religiösen Parteien?
In Tunesien waren die Mitglieder der Muslimbrüder-Partei "Ennahda" die einzigen echten Gegner Ben Alis. Ihre Organisation war verboten und sie durften sich politisch nicht betätigen. Deshalb waren sie im Prozess des Neuaufbaus die glaubwürdigste politische Kraft. Außerdem waren sie nah an der Bevölkerung. Denn häufig ersetzen diese religiösen Gruppierungen den Staat. Soziale Hilfsprogramme in Ägypten zum Beispiel laufen überwiegend über religiöse Kanäle. Der Staat fällt als fürsorgende Institution weitgehend aus.
Im Westen wurde der Arabische Frühling als Demokratiebewegung wahrgenommen. Ist das überhaupt korrekt?
Wir hätten es gerne so gesehen. Ich glaube aber, der Arabische Frühling hatte vor allem zwei Ursachen: Es ging um eine Verbesserung der ökonomischen und sozialen Lage der meisten Menschen - und um den Sturz der Diktatoren. Die Menschen haben gesehen, dass sie selbst in ärmlichen Verhältnissen leben müssen, und dass da oben eine Clique sitzt, die sich die Taschen vollstopft. So etwas geht auf Dauer nicht gut. Als sich der junge Gemüsehändler im Dezember 2010 in Tunesien verbrannt hat, war das ein Fanal für die ganze Region. In Tunesien war die Bewegung dabei noch am ehesten in Richtung Demokratie orientiert, weil die Gesellschaft immer säkular war, es freie Gewerkschaften, Frauen- und Arbeitgeberverbände gab. Die haben nach Europa geschaut und nicht im Koran gelesen - das war der Unterschied, etwa zu Ägypten.
Oder zu Marokko, über das wir schon gesprochen haben. Dieses Land gilt bei der Bundesregierung als "Reformchampion". Dennoch setzen auch von dort weiterhin Menschen nach Europa über. Wie erklären Sie sich das?
Weil das Leben dort - genau wie in Tunesien - für viele Menschen weiterhin schlecht ist. Viele sind arm und arbeitslos. Oder sie haben keine Hoffnung mehr darauf, dass die Situation in ihren Ländern besser wird. Das ist das Problem.
Corona in Nordafrika
Corona hat die Lage noch einmal verschärft. Was hören Sie aus Tunis und Kairo?
Corona trifft in Nordafrika auf ein wesentlich schwächeres Gesundheitssystem als bei uns. Am besten ist es - wieder - in Tunesien. In Ägypten ist es schlecht und unterfinanziert. Aber von dort erfährt man nichts, weil Ägypten eben ein autoritärer Staat ist, wo Journalisten nicht schreiben dürfen, was wirklich ist. In Tunesien hingegen erfährt man die Wahrheit und die korrekten Zahlen. Die bewegen sich im Rahmen. Es gibt in Tunesien weniger Covid-19-Fälle als in den europäischen Ländern, auch die Zahl der Todesfälle ist niedriger als bei uns. Die Kontaktbeschränkungen wiederum sind härter.
Inwiefern?
Um 18 Uhr ist Schicht im Schacht. Dann ist bis zum Morgen wirklich keiner auf der Straße. Das Land ist abgeriegelt, der Fährverkehr nach Europa ist eingestellt, Flugverbindungen gibt es vielleicht eine pro Woche. So kann das Land die Pandemie bewältigen. Das eigentliche Problem sind aber die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise. In Tunesien macht der Tourismus 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Marokko und Ägypten sind ebenfalls Tourismus-Länder. Doch seit dem Frühjahr sind die allermeisten Beschäftigten in den Restaurants, Hotels und an den Stränden arbeitslos. In Tunesien, Marokko oder Ägypten gibt es aber weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld. So steigt die Hoffnungslosigkeit - und es wächst wieder die Idee, nach Europa zu gehen.
Die EU macht allerdings zunehmend die Schotten dicht.
Europa wird diesen Zustrom an Flüchtlingen auf Dauer auch schwer bewältigen können oder wollen. Insofern kann ich nachvollziehen, dass die europäischen Länder versuchen, in Abkommen, Gesprächen und Vereinbarungen eine größere Fluchtbewegung aus Nordafrika abzuwenden. Nach Tunesien etwa finden ja regelmäßig Rückführungsflüge statt. Die Politik ist also nicht untätig, muss aber eines lernen: Die Probleme Nordafrikas sind immer auch unsere Probleme. Deshalb ist es in unserem eigenen Interesse, daran mitzuwirken, dass es diesen Ländern besser geht.
Zum Beispiel, indem die EU Tunesien und Marokko mit unter ihren Corona-Rettungsschirm schlüpfen lässt, wie Sie im Buch vorschlagen?
Ich würde generell empfehlen, Länder wie Tunesien und Marokko, die wirtschaftlich zwar einfach strukturiert aber relativ stabil sind, näher an den EU-Wirtschaftsraum anzubinden - mit Assoziierungs- oder Handelsabkommen, die mehr Investitionen aus Europa in diese Länder schaffen können. In der aktuellen Corona-Situation muss man sich vergegenwärtigen: Die EU spannt einen 750-Milliarden-Euro-Rettungsschirm auf, der leider am Mittelmeer endet. Da wäre es keine schlechte Idee, einen winzigen Bruchteil aus diesem gewaltigen Rettungspaket für unsere Nachbarn in Nordafrika zu reservieren - als Signal der Nähe und des gegenseitigen Verständnisses. Das würde uns auch bei der Bewältigung künftiger Flüchtlingsthematiken helfen.
War der vergangene Arabische Frühling der letzte?
Nein, es wird einen neuen Anlauf geben, den Arabischen Frühling 2.0. Die Lebensverhältnisse in Nordafrika sind weiterhin extrem schlecht. Die Leute werden eines Tages erneut sagen: "So kann es nicht weitergehen. Wir haben 2011 gesehen, dass wir Diktatoren stürzen können - und wir haben aus den Fehlern von damals gelernt."
"Frau Kohnen hat in den letzten Jahren große Enttäuschungen erlebt"
Zum Schluss noch zwei Fragen an den Genossen Franz Maget: Hat es Sie gewundert, dass Natascha Kohnen den Vorsitz der Bayern-SPD abgibt?
Frau Kohnen hat in den letzten Jahren so große Enttäuschungen bei Wahlen erlebt, dass man diesen Schritt verstehen muss. Ich habe die Wahlen im Ausland verfolgt, eigentlich sehr komfortabel, aber die Ergebnisse haben mir schon weh getan. Wenn Sie in Nordafrika leben und arbeiten, spüren Sie täglich, um wie viel besser die gesellschaftlichen Verhältnisse bei uns sind. Und vieles von dem, was hier besser ist, ist das Ergebnis sozialdemokratischer Politik: Die Menschen in Nordafrika hätten auch gerne soziale Sicherungssysteme, eine freie Gesellschaft, Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, ein funktionierendes Gesundheitssystem. All das hat in Deutschland zu einem großen Teil die SPD erkämpft - und eine solche SPD fehlt in Nordafrika. Es gibt dort keine Bewegung, die dem ähnelt. Wenn man das spürt, leidet man unter schlechten Wahlergebnissen der SPD in Bayern und Deutschland - und Frau Kohnen musste das alles einstecken.
Haben Sie einen Nachfolge-Favoriten oder eine Favoritin?
Nein. Damit beschäftige ich mich heute nicht mehr.
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Franz Magets Buch "Zehn Jahre Arabischer Frühling - und jetzt?" ist bei Volk erschienen und kostet 15,90 €.
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