Interview

EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides: "Wir haben nicht nur Fehler gemacht"

In der EU wächst die Furcht vor mutierten Coronaviren. Im AZ-Gespräch erklärt die zuständige Kommissarin, wie die Gemeinschaft dieser Gefahr begegnen will - und warnt vor gefälschten Vakzinen.
von  Detlef Drewes
Die Psychologin Stella Kyriakides (64) stammt aus Nikosia (Zypern) und gehört der EU-Kommission seit Dezember 2019 an. Die Christdemokratin ist für Gesundheit und Verbraucherschutz zuständig. Für den holprigen Impfstart in Europa wird immer wieder (auch) sie verantwortlich gemacht.
Die Psychologin Stella Kyriakides (64) stammt aus Nikosia (Zypern) und gehört der EU-Kommission seit Dezember 2019 an. Die Christdemokratin ist für Gesundheit und Verbraucherschutz zuständig. Für den holprigen Impfstart in Europa wird immer wieder (auch) sie verantwortlich gemacht. © dpa/Olivier Hoslet

München - Nach Versäumnissen bei der Impfstoff-Bestellung und -Beschaffung richtet die EU-Kommission jetzt den Blick nach vorne. Neben den Vakzinen sollen bald Medikamente für Covid-19-Kranke auf den Markt kommen, die Zulassung von Impfstoffen gegen die Mutanten wird beschleunigt. Die AZ hat darüber mit EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides gesprochen - vor dem eigentlichen Interview hatte die 64-Jährige jedoch einen Wunsch.

EU will bis Ende des ersten Quartals 100 Millionen Impfdosen ausliefern

STELLA KYRIAKIDES: Bitte erlauben Sie mir, bevor Sie die erste Frage stellen, mein Mitgefühl für die Leser Ihrer Zeitung auszudrücken, die mit dem Coronavirus infiziert waren, deren Angehörige erkrankten, die im Krankenhaus gegen das Virus kämpfen oder die gar einen lieben Mitmenschen verloren haben. Und ich möchte auch meinen tiefen Dank denen unter Ihren Lesern ausdrücken, die in Klinken, Pflege- oder Altenheimen für andere da sind.

AZ: Vielen Dank. Was können Sie denn allen anderen sagen? Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Fehler und Versäumnisse bei der Bestellung und Lieferung von Impfstoffen eingestanden. Was wird die EU jetzt tun, um besser zu werden?
Der aktuelle Status ist so. Bis zum Ende des ersten Quartals werden insgesamt 100 Millionen Dosen ausgeliefert. Für das zweite Quartal sehen die Zahlen viel besser aus und wir erwarten, dass von den drei derzeit zugelassenen Impfstoffen mindestens 300 Millionen Dosen ausgeliefert werden, wenn sich die Hersteller an die Verträge halten. Diese Zahl könnte sich sogar noch erhöhen, wenn der Impfstoff von Johnson & Johnson hinzukommt. Und für das dritte Quartal sollten wir weitere 300 Millionen von Biontech/Pfizer und Moderna haben, was bedeutet, dass wir - auch wenn wir jetzt noch nicht wissen, wie die Situation bei Astrazeneca sein wird - bis Ende September mindestens 700 Millionen Impfstoff-Dosen haben sollten, was mehr als genug für 70 Prozent der EU-Bevölkerung ist. Wir haben trotz aller Hindernisse keine Zeit vergeudet.

Corona-Impfstoff: "Es ist falsch zu behaupten, dass wir nur Fehler gemacht hätten"

Dennoch können Sie ja nicht zufrieden sein…
Das bin ich auch nicht. Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass wir vergessen, vor welcher Herausforderung wir stehen. Wir kämpfen gegen eine Pandemie, wie wir sie noch nie zu bewältigen hatten. Vor zehn Monaten hat niemand geglaubt, dass so schnell wirksame und sichere Impfstoffe entwickelt würden und für den Bürger zur Verfügung stehen. Es ist also falsch zu behaupten, dass wir nur Fehler gemacht hätten. Ohne die EU hätten die Bürger in allen 27 Mitgliedstaaten unabhängig von der Größe und der Wirtschaftskraft wahrscheinlich keinen Zugang zu Vakzinen bekommen. Die europäische Impfstrategie ist ein Erfolg.

Corona-Mutationen: Geeignete Impfstoffe sollen schneller verfügbar sein

Trotzdem gab es Probleme, etwa die Dauer des Zulassungsverfahrens. Was wollen Sie da besser machen?
Das ist ein gutes Beispiel. Wir haben uns zusammen mit der Europäischen Arzneimittel-Agentur (Ema, d. Red.) den Ablauf angesehen. Und wir haben nun entschieden, dass ein Impfstoff, der vom Hersteller auf der Basis des bisherigen Vakzins zur Bekämpfung neuer Mutationen nachgebessert wurde, nicht mehr den ganzen Zulassungsprozess durchlaufen muss. Es wird also schneller gehen, geeignete Impfstoffe verfügbar zu haben, ohne bei der Sicherheit Abstriche zu machen.

Sie könnten sich wieder verrechnen. Johnson & Johnson will den Impfstoff, der in Europa produziert wird, in den USA abfüllen lassen. Glauben Sie, dass Washington die Ausfuhr des fertigen Vakzins erlaubt?
Bisher hat Johnson & Johnson den Antrag auf Zulassung bei der Ema noch nicht eingereicht. Wenn das Unternehmen dies innerhalb des Februars tut, erwarten wir eine baldige Bewertung der Ema. Wir werden uns das natürlich ansehen. Aber im Moment warten wir auf die Einreichung für die Zulassung und das wird natürlich alles berücksichtigt werden.

"Ein Europa mit geschlossenen Grenzen halte ich für falsch"

Es werden nicht nur Impfstoffe, sondern auch Medikamente für Erkrankte gebraucht.
Parallel zum Impfstoff-Management treiben wir mit den Herstellern die Entwicklung von geeigneten Arzneimitteln voran. Ich kann Ihnen keinen genauen Zeitpunkt sagen, wann genügend zur Verfügung stehen. Aber das Thema hat eine hohe Priorität für uns.

Seit dem Wochenende wird an der Grenze zwischen Deutschland, Tirol und Tschechien wieder streng kontrolliert. Stehen wir vor einer neuen Welle von Grenzschließungen?
Die Furcht vor den Mutationen des Coronavirus ist verständlich. Deshalb sollte jeder von nicht notwendigen Reisen in Regionen sowie aus Gebieten, in denen das Virus in großem Ausmaß zirkuliert oder in denen die gefährlichen Mutanten vorkommen, Abstand nehmen. Aber trotzdem gilt die Wahrheit, dass sich das Virus nicht von geschlossenen Grenzen aufhalten lässt. Um die Verbreitung der Mutationen zu verhindern, müssen wir alle weiter die Abstands- und Hygieneregeln beachten und so viel wie möglich impfen. Dennoch halte ich es für falsch, dass wir wieder zu einem Europa mit geschlossenen Grenzen wie im März 2020 zurückkehren.

In der EU wird nicht gezielt genug nach Mutationen geforscht

Wird in der EU gezielt genug nach Mutanten geforscht?
Nein. Deutschland und einige andere bemühen sich inzwischen, die Sequenzierung voranzutreiben und die EU wird sie dabei unterstützen. Aber da brauchen wir noch viel mehr Anstrengungen von allen Mitgliedstaaten, um die Ausbreitung der Mutanten zu kennen und bekämpfen zu können. Tun wir es nicht, stehen wir diesem Problem blind gegenüber.

Wann wissen wir, ob Geimpfte das Virus weitergeben?
Das ist eine der wichtigsten Fragen, die die Wissenschaftler schnellstmöglich beantworten müssen. Die Europäische Kommission und die Ema warten wirklich jeden Tag darauf, dass uns die Forscher darauf eine verlässliche Antwort geben können.

Stimmt es, dass die EU-Kommission so etwas wie einen Europäischen Impfpass entwickelt, damit Geimpfte schneller ihre Rechte zurückbekommen, reisen und sich freier bewegen können?
Es geht nicht um einen Impfpass, sondern um ein Impfzertifikat. Der Unterschied besteht darin, dass das Papier, an das wir denken, alle Daten rund um die Impfung beinhaltet. Das erlaubt nicht nur eine differenzierte Nachbetreuung, egal wo diese dann später stattfindet. Es gibt uns auch einen Einblick in die Entwicklung des Virus sowie möglicher Nebenwirkungen, die sich erst mit Verzögerung einstellen. Es geht also um ein medizinisches Zertifikat. Ein Impfpass müsste dagegen global entwickelt werden. Dazu gibt es Gespräche mit der Weltgesundheitsorganisation. Wenn das Zertifikat ausgeweitet werden soll, müssten dies die EU-Staats- und Regierungschefs entscheiden.

"Die Bürger sollten sich vor gefakten Impfstoffen hüten"

Es gibt Gerüchte über einen Schwarzmarkt für Impfstoffe. Beunruhigt Sie das?
Die Mitgliedstaaten tauschen mit der EU-Kommission alle Erkenntnisse aus und würden, falls sich das bewahrheitet, dagegen vorgehen. Wichtig ist, dass die Gefahr von Fake-Produkten ernstgenommen wird. Ich kann deshalb nur an alle Mediziner und Bürger appellieren, gerade bei neuen Medikamenten und Impfstoffen ausschließlich die Produkte zu nutzen, die über die offiziellen Kanäle zu ihnen kommen. Die Bürger sollten sich vor Fake-News ebenso hüten wie vor Fake-Impfstoffen, die sie in trügerischer Sicherheit wiegen.

Wo werden wir heute in einem Jahr stehen?
Solche Prognosen sind nicht möglich. Vor einem Jahr hat niemand geahnt, wo wir jetzt sind. Ich will dazu nur eines sagen: Wir arbeiten wirklich an sieben Tagen 24 Stunden daran, die Lage in den Griff zu bekommen und die Menschen mit ausreichend Impfstoff-Dosen und Medikamenten zu versorgen.

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