Druckfrische Pässe: Sozialbetrug bei Ausweisdokumenten von Geflüchteten aus der Ukraine?
München - Thomas Karmasin (CSU) gilt als einer, der sich auch vor heiklen Themen nicht wegduckt. Seit Monaten warnt der Fürstenfeldbrucker Landrat, die Kommunen seien bei der Flüchtlingsunterbringung am Limit.
Umso wichtiger ist es aus Sicht des Präsidenten des Bayerischen Landkreistags deshalb, dass nur jene nach Deutschland kommen, denen auch tatsächlich ein Bleiberecht zusteht. Doch bei manchen Migranten, die in den vergangenen Monaten als Kriegsflüchtlinge in seinen Landkreis zogen, geht er davon aus, dass diese zu Unrecht den Schutzstatus beantragt haben.
Konkret geht es um einen Teil der Roma, die zuletzt in größerer Zahl als ukrainische Kriegsflüchtlinge nach Bayern gekommen sind. Im Brucker Landratsamt glaubt man, dass ein Teil von ihnen in Wahrheit neben der ukrainischen auch eine ungarische Staatsbürgerschaft hat. Es steht der Verdacht des Sozialbetrugs im Raum.

Der Grund: Flüchtlinge, die ausschließlich die ukrainische Staatsbürgerschaft besitzen, bekommen vom ersten Tag an Bürgergeld in voller Höhe - haben sie dagegen auch einen ungarischen Pass, gehen sie leer aus. Schließlich haben EU-Ausländer in Deutschland in der Regel nur Ansprüche auf Sozialleistungen, wenn sie hier längere Zeit gearbeitet haben. Für betroffene Roma-Großfamilien geht es im Einzelfall um bis zu mehrere Tausend Euro an Sozialleistungen pro Monat.
Ungarische Roma sind in Besitz ukrainischer Pässe - zu Unrecht?
Im September schätzte das Brucker Landratsamt die Zahl der mutmaßlich ukrainischen Roma in den Flüchtlingsunterkünften im Brucker Landkreis auf rund 100. Gut 80 von ihnen sind laut Karmasin "auf wundersame Weise" im Besitz brandneuer ukrainischer Pässe. Viele der Roma würden jedoch Ungarisch sprechen.
Der CSU-Politiker sagt der AZ: "Dass diese Familien - vor allem diese Vielzahl - ihr gesamtes Leben lang ohne Identitätsdokumente waren, halten wir für sehr unwahrscheinlich und lebensfremd." Er verweist darauf, "dass diese im Grenzbereich leben" und bei Fahrten von der Ukraine nach Ungarn Passkontrollen üblich sind.
Nicht nur in Fürstenfeldbruck haben Behörden den Verdacht, dass manche tatsächliche oder vermeintliche ukrainische Flüchtlinge den Besitz eines zusätzlichen ungarischen Passes verheimlichen. Das ergaben Anfragen der AZ bei zahlreichen bayerischen Landkreisen und kreisfreien Städten sowie dem bayerischen Innenministerium. In Einzelfällen ist auch fraglich, ob die Betroffenen überhaupt aus der Ukraine kommen.
Geflüchtete reisen mit ihren neu ausgestellten Pässen zwischen Deutschland und Ungarn oder Rumänien
Eine Sprecherin des Landratsamts Rosenheim sagt der AZ: Vor allem die seit Anfang 2023 zuziehenden ukrainischen Flüchtlinge mit Roma-Hintergrund würden "meist neu ausgestellte Reisepässe besitzen". Sehr oft stammten diese Personen aus Transkarpatien, einer an Ungarn grenzenden Region in der Westukraine.
Ein Teil dieser Menschen würde Ungarisch sprechen. "Viele können im anschließenden Verwaltungsverfahren ihre Schutzberechtigung nicht geltend machen, da sie nicht nachweisen können, vor Kriegsausbruch in der Ukraine gelebt zu haben", so die Sprecherin.
Besonders betroffen von dem Phänomen ist offenbar der Großraum München. Das Tölzer Landratsamt teilt auf Anfrage mit, die aus dem ukrainischen Grenzgebiet in den Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen gekommenen Flüchtlinge "mit neu ausgestellten Reisepässen" würden "oft Ungarisch sprechen". Auch reisten sie "häufig für nur wenige Tage zum Monatsende beziehungsweise Monatsanfang in einen EU-Staat" - meist nach Ungarn oder Rumänien.
Der Verdacht: Einige Geflüchtete verschweigen ihre ungarische Staatsbürgerschaft
Eine Sprecherin des Dachauer Landratsamts sagt der AZ: "Seit Kriegsbeginn sind 88 Sinti und Roma in unseren Landkreis gekommen." Mittlerweile seien "fast alle untergetaucht". Es habe sich "herumgesprochen, dass wir streng kontrollieren". Ihre Behörde geht "von gut 60 Personen aus, bei denen der Verdacht auf die ungarische Staatsangehörigkeit besteht". Die Aufklärung laufe derzeit. So lange erhielten die Betroffenen keine Sozialleistungen über das Jobcenter.
Auch in Ebersberg und Garmisch-Partenkirchen sowie diversen Landratsämter außerhalb Oberbayerns kennt man die Problematik, wie die AZ-Umfrage zeigt. In München liegen dagegen "keine Zahlen vor", wie das städtische Kreisverwaltungsreferat mitteilt.
Angebliche Ukrainer, die weit besser Ungarisch als Ukrainisch sprechen? Wie kann das sein? Mehrere Landkreise haben sich wegen des Verdachts einer verschleierten ungarischen Staatsangehörigkeit an das CSU-geführte bayerische Innenministerium gewandt.
Rund 1.200 Verdachtsfälle prüft der Bund aktuell
Diverse Behörden schalteten zudem die Polizei zur Überprüfung der Ausweisdokumente von ukrainischen Flüchtlingen ein.
Doch die Pässe der kontrollierten Roma stellte sich in der Regel als echt heraus. Das bayerische Innenministerium geht deshalb davon aus, dass zumindest der Großteil der als Flüchtlinge gekommenen Roma tatsächlich in der Westukraine lebt. Der Verdacht, dass nicht wenige von ihnen auch ungarische Pässe haben, bleibt jedoch weiter bestehen.
Der Freistaat habe rund 1.200 Verdachtsfälle zur Überprüfung an den Bund weitergegeben, so ein Ministeriumssprecher. "In den beschriebenen Fällen einer mutmaßlich unterdrückten ungarischen Staatsangehörigkeit wird derzeit seitens des Bundesinnenministeriums versucht, eine Lösung mit den ukrainischen und ungarischen Behörden für einen entsprechenden Registerabgleich zu etablieren." Doch das kann dauern.
Anteil der Roma unter den ukrainischen Geflüchteten nicht bekannt
Rund 150.000 ukrainische Flüchtlinge leben derzeit in Bayern - wie hoch der Anteil der Roma ist, wird nicht erfasst. Bei den Staatsanwaltschaften ist Sozialbetrug von angeblichen oder tatsächlichen Ukrainern zumindest bislang kein großes Thema - darauf deuten AZ-Anfragen bei einzelnen bayerischen Strafermittlungsbehörden hin.
Ein Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats geht im Gespräch mit der AZ davon aus, dass viele westukrainische Roma sich schlicht deshalb erst kürzlich neue Pässe machen ließen, weil sie "zuvor keine gebraucht haben". Kathrin Flach Gomez, Landessprecherin der Linken, sagt: Deutschland habe gegenüber den Roma aufgrund des Holocaust eine besondere Verantwortung. "Es muss sichergestellt sein, dass sie hier würdig leben können." Menschen, die als Flüchtlinge kommen, sollten stets vom ersten Tag an arbeiten und Bürgergeld beantragen können.
Für den CSU-Bundestagsabgeordneten Max Straubinger ist die mutmaßliche Erschleichung von Sozialleistungen dagegen das beste Beispiel dafür, dass Deutschland die falsche Anreize setze. "Wir müssen soweit es geht auf Sachleistungen umsteigen. Der Zustrom von Wirtschaftsflüchtlingen muss ein Ende haben."
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