Die Flucht nach der Revolution

Politisch hat sich viel getan, die sozialen Gründe für den Aufstand sind noch da. Die Zeit ist günstig für den Weg aus der Krise.
von  Matthias Maus

Lampedusa - Es ist die Ruhe nach dem Sturm. Meteorologisch und sprichwörtlich. Ungewöhnlich milde Bedingungen herrschen im Mittelmeer. Die Zeit ist günstig für das Wagnis, für die Flucht nach Europa. Tausende nutzen die schwachen Winde und den Frühling der Revolution in Tunesien. Für Italien ist das „humanitärer Notstand” – und für Europa ein neues Problem.
5000 Menschen, meist junge Männer, meist Tunesier, sind in den letzten fünf Tagen übers Meer gekommen. Und es werden noch mehr. Die italienische Küstenwache hat weitere Boote ausgemacht – manche nur zehn Meter lang, alle hoffnungslos überladen.

Neun Kilometer lang, maximal drei Kilometer breit ist Lampedusa. Knapp 150 Kilometer liegt die Insel vor der tunesischen Küste. Das öde Eiland ist Europa, das gelobte Land für zahllose Junge, die daheim keine Perspektive haben – immer noch nicht.

Es gibt ein Flüchtlingslager auf Lampedusa, 800 Menschen passen nach offiziellen Angaben darauf, Italiens Regierung hatte es geschlossen, um nicht noch mehr Bootsflüchtlinge „anzulocken”. 2008 und 2009 kamen 20000 Menschen aus dem Irak, Afghanistan oder dem Senegal.

Seitdem wurden erwischte Flüchtlinge sofort zurückgeschickt, sie landeten oft in nordafrikanischen Gefängnissen. Doch seit dem Wochenende ist das Lager wieder offen, der Druck war zu groß. Rund 2000 Menschen sind dort, die anderen sind nach Sizilien gebracht worden.

„Politisch hat sich unheimlich viel getan in Tunesien” sagt Ralf Melzer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis: „Keine Zensur mehr, der Demokratisierungprozess läuft”, sagt der Historiker: „Aber wirtschaftlich ist es natürlich noch nicht besser.” Die sozialen Gründe für den Aufstand sind noch so brennend wie vor dem 14. Januar, dem Tag, als der Diktator Ben Ali aus dem Land floh. „Die wirtschaftlichen Bedingungen, die Arbeitslosigkeit, die Aussichtslosigkeit für die Jungen ist geblieben,” sagt Melzer: „Wahrscheinlich gehen jetzt die, die das schon lange vorhatten.” Die Zeiten sind günstig, weil die tunesischen Grenztruppen ihre Arbeit nicht immer so genau nehmen – manchmal aber auch zu genau: Mindestens ein Mensch ist ertrunken, als ein tunesisches Patrouillenboot ein Flüchtlingsschiff rammte: Ein Mensch ist vermisst, zehn andere wurden aus dem Wasser gefischt.

„Es ist eine lebensgefährliche Reise” sagt Melzer: „Hinter jedem Entschluss, sein Land zu verlassen steckt eine menschliche Katastrophe.” Rund 1400 Euro sind für die Überfahrt an den Schlepper zu entrichten.

Für die Politiker in Europa ist es eher ein Flüchtlingsproblem: Italiens Innenminister Roberto Maroni setzt sich in die diplomatischen Nesseln, als er den Einsatz italienischer Polizisten in Tunesien vorschlug: „Tunesien lehnt jede Einmischung in seine inneren Angelegenheiten ab”, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Tunis. Man sei „bereit, mit befreundeten Staaten zusammenzuarbeiten, um angemessene Lösungen für das Phänomen der illegalen Migration zu finden.” Am Wochenende war Außenminister Guido Westerwelle da, die neue Regierung freute sich über die Aufwertung.

Am Montag machte EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton ihre Aufwartung in Tunis. Das Thema Flüchtlinge spielte eine Rolle bei den Gesprächen, welche Lösungsansätze sich fanden, ist unklar. Angesichts des Flüchtlingsstroms prüft die EU-Kommission den Einsatz von europäischen Grenzschützern in Italien. Die Beamten seien innerhalb weniger Tage einsatzbereit und könnten die Lage auf Lampedusa überwachen.

Die Boote werden weiter übers Meer kommen. Die Wettervorhersage für die kommenden Tage ist gut: Wenig Wind, eineinhalb Meter hohe Wellen.

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