Der Protest gegen den Castor: „Ihr solltet Euch was schämen!“
GORLEBEN - Vom Kinderwagenschieber bis zum 88-Jährigen, vom Bauern bis zum „Schotterer“: Eine Region probt den Widerstand gegen den ungeliebten Zug mit den Castor-Behältern und darin dem radioaktiven Atommüll. 16.000 Polizisten peitschen ihn durch.
Am Abend kam die Tochter zu Wolfgang Ehmke. Sie wollte seine Schwimmbrille. „Wozu brauchst du die denn?“, fragte der 63-Jährige. „Die setzen bestimmt Tränengas ein“, antwortete Helene: „Ich brauch das Ding zum Schutz.“ Sie hat die Brille geholt und ist losgezogen. Nachts um vier war die Tochter an der Sitzblockade in Leitstade, 30 Kilometer vor Gorleben: „Sie hatte Angst, dass der Zug früher durchkommt“, sagt Wolfgang Ehmke, und jetzt macht er sich Sorgen.
Der Zug. Jeder hier weiß, was damit gemeint ist. 123 Tonnen höchstradioaktiver Atommüll, verteilt auf elf Container, in jedem einzelnen von ihnen ist das Strahlenpotential des Unfalls von Tschernobyl. Sie sollen hier durch. Es sind Castor-Tage im Wendland, wieder einmal. Wieder einmal sind sie alle auf den Straßen und in den Wäldern. In den Camps und in den Scheunen um die niederen Häuser aus Fachwerk und Backsteinen; hier, in einer der reizvollsten Landschaften, die kaum einer kennt im Süden.
„Und hier wollen sie den Dreck abladen“, sagt Bauer Manfred und lässt seinen mächtigen Arm kreisen. „Seit 33 Jahren geht das jetzt schon, aber wir geben nicht auf.“ Seit 33 Jahren wehren sich die meisten hier gegen die Castoren, die in einer oberirdischen Lagerhalle in Gorleben auf ein Endlager warten. Sie wollen nicht das Atomklo Deutschlands sein.
Hier heißen Bulldogs Trecker, und der von Manfred steht quer auf der Straße von Hitzacker nach Wietzetze. Zusammen mit 15 „Fendts“, „John Deere“ und anderen Traktor-Monstern blockieren sie die Durchfahrt: „Aber wir blockieren doch gar nicht“, schimpft Manfred, „die blockieren!“ Weiter vorne stehen drei Mannschaftswagen aus Bremen, in ihren Monturen sehen die Polizisten davor aus wie Kampfmaschinen.
In ihren jungen Gesichtern steht Verunsicherung, manchmal Ärger und ein bisschen Angst. Auch das gehört zu den Castortagen. Männer – und Frauen – , die aussehen wie lebensgroßes Kriegsspielzeug, mit Helm und Knieschützern, traben durch verschlafene Nebenstraßen, an Sonntags-Spaziergängern mit ihren Hunden vorbei. Für die gelben X in den Vorgärten – das Zeichen der Widerständler – haben die Polizisten aus allen Bundesländern keinen Blick. 16000 sind es diesmal. Mehr als je zuvor. Sogar eine kroatische Einheit ist zum Zusehen dabei: wie man so umgeht mit großen Protesten.
„Seid Ihr sicher, dass Ihr auf der richtigen Seite steht?“, fragt Manfred die Beamten aus Bremen – und erntet Schweigen. „Wir sind hier echt eingekesselt“, staunt der Landwirt, seit 20 Jahren ist er Mitglied in der „bäuerlichen Notgemeinschaft“, die sich gegen Castor wehrt. „Die Mannschaftswagen vorn blockieren den Weg zu unserer angemeldeten Mahnwache“ – Manfred kennt sich aus im Demorecht – und hinten stehen ein Räumpanzer und ein Wasserwerfer: „Ihr solltet euch was schämen!“, ruft eine Frau von außen den Polizisten zu. Sie sind nicht zu beneiden.
Die Stimmung ist mies, das merkt man nicht nur an der Blockade der Bauern. Während die nur in Begleitung von drei Polizisten zur nahen Tankstellen-Toilette gehen dürfen, fliegen ein paar Kilometer weiter Steine. Die angeblich gewollte Deeskalation geht in Tränengas-Schwaden auf.
Dabei hatten sich viele täuschen lassen von der Riesenparty am Samstag. Da waren 50000 Menschen zum Feld nach Splietau gekommen, etwas mehr als einen Steinwurf entfernt von dem Punkt, an dem die Castoren von der Bahn auf die Straße umgeladen werden. „Das sind ja so nette Leute hier“, sagt Annette Schulze aus Weilheim. Die Bayern-Fahne, unter der sie sich mit ihrem Mann und Peter Ries aus Nürnberg gestellt hat , „die haben unsere Gastgeber uns gestern noch genäht“. Die Gäste aus Bayern sind bei Familien untergekommen, so wie Günter Wimmer aus München, so wie Zehntausende andere auch, jetzt stehen sie gemeinsam auf dem völlig aufgeweichten Maisacker und feiern sich.
Jung und alt, tatsächlich ein Querschnitt, vom Kinderwagenschieber aus der Nachbarschaft bis zum Autonomen aus Hamburg reicht das Spektrum. „Wir sind so viele wie noch nie“, sagt ein Sprecher, und doch hält die Idylle nur einen Tag. Über das Ziel sind sie alle einig, aber der Weg dorthin ist umstritten: Da sind die „Schotterer“, die sich im Schutz der Wälder und der eiskalten Novembernacht an die Gleise schleichen, um mit bloßen Händen den Schotter zwischen den Schwellen rauszupulen. Für sie ist das Ganze ein Abenteuer, für die Polizei ist es eine Straftat. Wo sie aufeinander prallen, geht's zur Sache. Und da sind die Blockierer, die sich nur auf die Gleise setzen oder auf die Zufahrt zum Endlager: „Einen Stein nehmen wir nicht in die Hand“, sagt Heike Nissen. „Das wollen die doch nur, dass es hier Gewalt gibt.“
Gewalt hat es dann auch gegeben. Helene Ehmke hat ihre Schwimmbrille gebraucht. Das hat sie ihrem Vater gesagt. Am Telefon. Sie ist im Wald geblieben, hat sich vom Tränengas nicht vertreiben lassen. Der Vater macht sich Sorgen, und er ist wütend: „Manchmal könnt ich aus der Haut fahren“, sagt er. „Dabei mahnt mich mein Vater immer: ,Bleib besonnen’“. Der Vater ist 88. Auf der Demo am Samstag war er trotzdem.
Matthias Maus
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