Der Live-Krieg im Netz

TEHERAN - Auf Teherans Straßen toben Unruhen. Während Journalisten an der Berichterstattung gehindert werden, nutzen die Demonstranten Medien wie Twitter - in einer ganz neuen Dimension
Sie bangen, sie beten, sie berichten der Welt, sie organisieren an allen Sperren vorbei ihren Aufruhr: Die iranischen Demonstranten haben einen ganz neuen, unerwartet mächtigen Verbündeten – das Internet. Das gibt ihrem Aufstand eine ganz neue Dimension und neue Chancen. Die werden sie brauchen – denn die Regierung Mahmud Ahmadinedschad versucht immer brutaler, die Wut zu ersticken. Bisher gibt es offiziell sieben Tote, die Opposition spricht von mindestens 15 Opfern.
Eine Revolution in 140 Zeichen: Vor allem der Dienst Twitter, bei dem man 140-Buchstaben-Botschaften absetzen kann, wird zur zentralen Plattform. Die klassischen internationalen Medien werden von der zunehmend nervösen iranischen Regierung immer drastischer ausgebremst: Gestern wurde ihnen jegliche Berichterstattung außerhalb der Büros verboten, das Besuchen von Kundgebungen untersagt und das Vorlegen aller Berichte verordnet. Interviews dürfen nur noch per Telefon geführt werden.
"Wir sind die Augen der Welt"
Die Behörden kündigten außerdem an, die Visa der ausländischen Journalisten nicht zu verlängern. Schon davor wurden sie stark behindert und drangsaliert, ARD-Mann Peter Mezger etwa musste in seinem Hotelzimmer bleiben (siehe Kopf des Tages), sein iranischer Techniker war für Stunden festgenommen. Der persische Dienst von BBC wird mit Störsendern ausgebremst. „Filmt und schreibt, was ihr könnt, sehr wichtig, jetzt sind wir die Augen der Welt“, schreibt „persiankiwi“ flehentlich in Twitter an seine Mit-Demonstranten vor der nächsten Kundgebung.
Am Vorabend hatte er fast jede Minute eine neue Botschaft abgesetzt – mal erschöpft, mal kämpferisch, mal ganz pragmatisch. Augenzeugen-Eindrücke live von den größten Unruhen in dem Gottesstaat seit 30 Jahren. „Wir hören Schüsse“, „Non-Stop-Hupen in der ganzen Stadt“, „Hilfe, sie stürmen unseren Schlafsaal“, „Sie prügeln auf eine Schwangere ein“, „Gebt nicht auf!!“ schreiben die Demonstranten unter dem Suchwort #iranelection. Sie stellen heimlich aufgenommene Handy-Fotos und -Filme online. Hautnah kann man ihre Erlebnisse mitlesen, wie bei keinem Aufstand je zuvor: „Oh GOTT, Reza ist schwer verletzt, wir bringen ihn ins Krankenhaus“, berichtet „change-for-iran“. Am nächsten Tag ganz knapp: „Reza ist tot.“
"Lasst uns nicht allein"
„Bitte glaubt uns, wir versuchen, so korrekt wie möglich zu sein“, schreibt persiankiwi in die Welt hinaus – und etikettiert seine „tweets“ ordentlich mit „rumor“ (Gerücht) oder „confirmed“ (bestätigt). „Bitte helft uns! Lasst uns nicht allein“, appelliert er an die Netzgemeinde. „Wir wollen nur Freiheit.“
Gestern dann wurden die Botschaften von „persiankiwi“ seltener: Die Regierung versucht, was sie kann, um diesen Kanal zu stoppen. Das SMS-System im Iran ist seit Freitag gekappt, das Mobilnetz seit Samstag, das Internet seit Sonntag. Technisch versierte Nutzer schaffen es dennoch, wenigstens bei Twitter reinzukommen – auch dank der weltweiten Hilfe.
Die Regierung stellt Fallen im Netz
Menschen aus aller Welt schicken immer neue IP-Nummern von ungesperrten Servern in den Iran, senden Links, wie man doch auf die gesperrten BBC-Berichte kommt. Auch Twitter selbst staunt über seine Rolle: Eine geplante Wartungspause wurde extra um einen Tag auf eine nachtschlafende Zeit im Iran verschoben.
Mittlerweile ist auch die iranische Regierung auf Twitter gekommen: Sie erfindet eigene Identitäten, um Fallen zu stellen und die Demonstranten an andere Orte zu locken – denn die Kundgebungen mit Hunderttausenden werden mittlerweile ausschließlich über Mundpropaganda und Twitter organisiert.
Opposition: Schon 15 Tote
Die Regierung liest die international gespendeten IP-Nummern mit und sie versucht, die iranischen Netzrebellen über ihr Twitterprofil ausfindig zu machen. Ein Waliser hat deswegen sogar schon eine „Anfängerfibel Cyberwar“ erstellt, unter anderem mit dem Tipp, es möchten sich doch alle weltweit Angemeldeten als Iraner (Zeitzone: GMT +3.30) bezeichnen, damit die Sicherheitskräfte gut zu tun haben. Er mahnt aber auch: „Leute, seid vorsichtig. Menschen sterben dort, so richtig echt.“
Und die Eskalation weiterer Gewalt wird befürchtet – auch wenn der offiziell unterlegene Reformkandidat Mir Hossein Mussawi dazu aufgerufen hat, nicht mehr zu Kundgebungen zu gehen, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Für gestern hatte Mahmud Ahmadinedschad eine Jubel-Demonstration angesetzt, genau auf dem Platz, wo sich die Mussawi-Leute treffen wollen.
Und viele Reformer sind entschlossen, zu kommen und ihre Meinung kundzutun. Panisch hieß es kurz vor dem Start der Demo im Netz: „Dringend! Bitte weitergeben! Armee marschiert in Teheran gegen Demonstranten!“
Anja Timmermann