"Der dritte Weltkrieg bricht aus"
Kiew Es ist kalt auf dem Maidan, der Winter ist nicht vorbei in Kiew. Zwischen unzähligen Protestzelten stehen Eisentonnen, in denen Holz verbrannt wird. Überall wehen Fahnen im Wind, die meisten gelb-blau, die Farben der Ukraine. Der Protestbereich ist immer noch durch Wände aus Schnee, Autoreifen und Stacheldraht vom Rest der Stadt abgegrenzt. Auf den Gehwegen fehlen Pflastersteine, sie liegen zu Haufen gestapelt hinter den Barrikaden.
Iryna Lisova steht am Rande des Platzes. Ihr gegenüber liegt das abgebrannte Gewerkschaftshaus, auf der rechten Seite ist es vollkommen schwarz, die Fenster sind gesprungen. Ein älterer Mann mit verhärmtem Gesicht spricht Iryna von der Seite an, „Der dritte Weltkrieg bricht aus!“, ruft er ihr zu. „Ich hoffe, er hat Unrecht“, sagt Iryna mit angespanntem Blick, „ich habe genauso Angst vor einem Krieg wie er.“
Seit mehr als einer Woche wird die zur Ukraine gehörende Krim von russischen Soldaten und einem russlandtreuen Regierungschef kontrolliert. Nichts scheint mehr ausgeschlossen. Iryna trägt eine schwarze Winterjacke, darüber ein weißes Stricktuch. Ihre rötlichen Haare sind nach hinten gebunden. Eigentlich arbeitet sie als Übersetzerin, doch seit Wochen geht sie kaum noch zur Arbeit.
Stattdessen sitzt die 28-Jährige daheim und liest politische Analysen. „Vor den Protesten war ich vollkommen unpolitisch“, sagt sie. „Jetzt muss ich versuchen, das aufzuarbeiten. Damit ich die Situation verstehe.“ Iryna kam in der Nacht zum 1.Dezember auf den Platz, in der Nacht, als es zum ersten Mal zu größeren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei kam. „Davor haben mich die Proteste nicht interessiert“, sagt sie: „Ich bin auch kein großer Fan der EU.“
Aber als sie von der Gewalt hörte, da entschied sie, zu helfen. „Jetzt unterstütze ich die Proteste vollkommen.“ So wie Iryna geht es den meisten Leuten auf dem Maidan. Fast alle kamen wegen der Übergriffe der Polizei zu den Protesten, kaum jemand war vorher politisch aktiv.
„Bis zum 1. Dezember sah es aus wie eine ganz normale Demonstration, es waren vielleicht 1000 bis 5000 Leute da“, sagt der 33-jährige Bogdan, ein Aktivist der ersten Stunde. „Aber als die Gewalt begann, wurden es immer mehr.“ Er selbst war von Anfang an dabei. „Ich war einfach schon seit Jahren frustriert.“
Als die Proteste am 18. Februar eskalierten, da stand Bogdan in der ersten Reihe, auf den Barrikaden. „Meine Mutter stand neben mir, hat mir Steine gereicht“, erzählt er. „Ich habe sie geworfen und mich gleichzeitig hinter einem Schild versteckt, um nicht von den Blendgranaten getroffen zu werden.“ So ging das die ganze Nacht. Bis morgens um 8 Uhr. Dann packte er seine Sachen – und ging zur Arbeit.
Wie geht es jetzt weiter? „Ich will nichts über die Zukunft sagen“, sagt Iryna. „Jeden Morgen, wenn man aufwacht, ist die Situation eine andere.“ Das Protestcamp soll bis zu den Wahlen am 25. Mai bleiben, als Warnung für die Politik. „Ich hoffe nicht auf ehrliche Politiker“, sagt Iryna. „Aber ich würde mir zumindest ehrliche Wahlen wünschen.“ Weniger Korruption und freie Wahlen, das hört man immer wieder.
Einen bestimmten Politiker bevorzugt fast niemand. Vitali Klitschko und Julia Timoschenko, die bekanntesten Politiker, stoßen auf Skepsis: „Als Timoschenko aus dem Knast kam, hat sie sich aufgeführt, als hätten wir diese Revolution für sie gemacht“, sagt Iryna: „Haben wir aber nicht.“ Iryna schürzt nachdenklich die Lippen. „Vielleicht wäre sie besser erstmal heim zu ihrer Familie gefahren.“ Noch entschiedener ist die Meinung zu Vitali Klitschko. Er sei eine Witzfigur, hört man oft, zu unerfahren. Kaum jemand nimmt ihn ernst.
„Wahrscheinlich werden wir die nächste Regierung auch verjagen müssen“, sagt der 22-jährige Wowa, der vor einem Protestzelt Wache schiebt. „Aber damit haben wir ja jetzt schon Erfahrung.“ Der 19-jährige Yaroslav, der seit zwei Monaten drei- bis viermal pro Woche kostenloses Essen an die Protestler ausgibt, geht noch einen Schritt weiter: „Mir reicht es, wenn keine Leute mehr sterben müssen. Ansonsten ist mir das politische System egal“, sagt er. „Ich hatte vor den Protesten nicht einmal ein Problem mit Janukowitsch.“
Die Einzigen, die auf dem Maidan wirklich organisiert auftreten, sind die Mitglieder des Rechten Sektors. Viele von ihnen sind vermummt und tragen Schlagstöcke und Messer mit sich. Um für Sicherheit zu sorgen, wie sie sagen. Was der Rechte Sektor will, das weiß auf dem Maidan niemand so richtig. „Wir sind keine Antisemiten und auch keine Rassisten“, behauptet Gründungsmitglied Pavlo Hai-Nyzhnyk. Im November haben sie sich aus rechten und rechtsextremen Gruppen konstituiert. In Deutschland ist der Rechte Sektor für seine Übergriffe gegen Homosexuelle und Juden bekannt.
Die Protestler auf dem Maidan nehmen den Rechten Sektor hin. Aber die Demonstranten wollen den Eindruck entkräften, sie stünden unter dem Einfluss von Extremisten. Die wenigsten halten den Rechten Sektor für gefährlich oder rassistisch - es gibt auch viel Naivität auf dem Maidan. Die Menschen hier sind stolz auf das Erreichte. Fast alle haben ein blau-gelbes Band an ihre Jacke geheftet.
Alle eint die Angst vor einem Krieg und der Hass gegen Putin. „Es geht bei diesem Konflikt um Putin, nicht um Russland“, sagt Iryna. Sie spricht Russisch, kann gar kein Ukrainisch. Wie viele Leute auf dem Maidan. „Russland und die Ukraine sind befreundete Völker. Ein Krieg zwischen uns wäre schrecklich.“ Laura Meschede, Volker Haaß