"Behandelt wie ein Hund"
PARIS - Ingrid Betancourt spricht über ihre Gefangenschaft: Drei Jahre lang war sie angekettet in einem Versteck im kolumbianischen Dschungel. Die psychischen Folgen sind noch ungewiss.
Seit Mittwoch steht die große Uhr still. „2321 Tage“ ist auf der elektronischen Anzeige zu lesen. So lange war Ingrid Betancourt Gefangene der linksgerichteten FARC-Rebellen. Am Freitag landete die ehemalige kolumbianische Präsidentschaftskandidatin in ihrer zweiten Heimat Paris. Dort wollte sie Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy treffen und dem Rathaus einen Besuch abstatten. An der Fassade hatte die Stadt Paris vergangenes Jahr das überlebensgroße Betancourt-Plakat anbringen lassen – und die Uhr, die die Tage ihrer Gefangenschaft zählte.
„Ich bin sehr dankbar und überrascht über diese weltweite Unterstützung“, sagte Betancourt auf dem Weg zum Militärflughafen Villacoublay nahe Paris. In einem Interview für den französischen Sender „Europe 1“ erzählte die Halb-Französin Details aus ihrer Geiselhaft. Drei Jahre lang sei sie rund um die Uhr angekettet gewesen. Später habe man begonnen, ihre Fesseln tagsüber zu lösen. „Ich wurde behandelt wie ein Hund“, sagte Betancourt. „Ich muss erst wieder in der Zivilisation ankommen. Im Flugzeug wusste ich nicht mehr, wie die Toiletten-Türen abgesperrt werden.“
Die Nacht zuvor hatte Betancourt mit ihrer Familie verbracht. „Wir haben stundenlang geredet“, erzählte ihr Ehemann Juan Carlos Lecompte. „Wir konnten einfach nicht schlafen.“ Zum Frühstück wünschte sie sich Apfelsinen – „sie hatte so einen Appetit darauf“, sagte Lecompte.
Relativ gut bei Gesundheit
Gesundheitlich geht es der 46-Jährigen relativ gut. Zwar soll sie nach Angaben ihres Ex-Mannes Fabrice Delloye an Hepatitis B und Leishmaniose leiden (eine Tropen-Infektion, die Fieber und Blutarmut hervorruft), aber Betancourt machte auch gestern in Paris einen fitten Eindruck.
Völlig unklar ist jedoch, wie sich die sechsjährige Gefangenschaft auf Betancourts Psyche ausgewirkt hat. „Ingrid ist sehr klar und in einer sehr schönen Stimmung“, sagt ihr Ehemann. Noch überwiegt die Euphorie. Aber Psychologen warnen: Betancourt ist schwer traumatisiert. „Sie hat jahrelang im Angesicht des Todes gelebt und steht nun, von jetzt auf gleich, im Licht der Öffentlichkeit“, sagt der Trauma-Spezialist Erik de Soir. „Es ist sehr wichtig, dass sie psychologische Hilfe in Anspruch nimmt.“
Geiseln wie Ingrid Betancourt, die jahrelang gefangen waren, erleben oft eine langfristige Persönlichkeitsveränderung, sagt der Kölner Psychologe Gottfried Fischer. „Das geht weit über die posttraumatische Belastungsstörung hinaus.“
"Frei sein von Hass und Vergeltung"
Trotz allem will Ingrid Betancourt ihren Peinigern vergeben: „Ich will frei sein – auch frei von Hass und Vergeltung. Solche Gefühle machen mich zur Sklavin“, sagt sie. Was Betancourt helfen könnte, ist ihre starke Persönlichkeit: Betancourt hat sich nie aufgegeben. „Sie hat eine Mission“, sagt Fischer. Sie will Kolumbien „dienen“. Und das Land endlich vom FARC-Terror befreien.
Annette Zoch
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