Befreit aus eigener Kraft
MÜNCHEN - Die Wahl-Münchnerin Jana Buchholz war 18, als sie ihre Familie verließ und aus der DDR flüchtete – zwei Monate vor der Wende. Zum Auftakt der AZ-Serie erzählt Buchholz über ihre Flucht, ihr neues Leben - und davon, dass sie glaubt heimatlos zu sein.
Als die S-Bahntüren in Ost-Berlin zugehen, winkt Jana ihrer Mutter zu. Die Mutter lächelt zuversichtlich. Ihren Tränen wird sie erst später, alleine zu Hause, freien Lauf lassen. Jana ist 18 Jahre alt und auf dem Weg zum Flughafen. Ihre Mutter weiß: Sie wird nach Ungarn fliegen und von dort nicht mehr zurückkommen. Sie ist fest entschlossen, aus der DDR zu fliehen - auch wenn das ein Abschied für immer ist. „Das war das Schlimmste“, sagt Jana Buchholz heute. „Aber ich habe das auch ein bisschen verdrängt. Ich wollte einfach raus“, erzählt die 38-Jährige, die seit acht Jahren in München lebt.
Jana Buchholz gehörte zu den Flüchtlingen, die im September 1989 über die ungarisch-österreichische Grenze flohen. Im August hatten die Ungarn angefangen, ihre Grenzbefestigungen abzubauen. Jana und ihr Freund Josch verfolgten das in Schwerin im Westfernsehen. Die Entscheidung zur Flucht kam ganz spontan. „Josch hatte wie jedes Jahr einen Ungarn-Urlaub mit Freunden geplant. Das war die Gelegenheit.“ Heute wundert sich Jana Buchholz fast darüber, wie sicher sie sich mit ihren 18 Jahren war, dass die Flucht die einzige Lösung für sie ist.
Aufgewachsen ist Jana in einem privilegierten Elternhaus - zunächst. Der Vater ist Handwerker, die Mutter Lehrerin. Jana ist in der FDJ, nimmt alles mit, was die DDR ihr bieten kann: Schüleraustausch, internationale Jugendtreffs.
Doch die Eltern sind nicht in der Partei. Mitte der Achtziger wird Janas Vater nach einem angeblichen Fluchtversuch verhaftet und sitzt zweieinhalb Jahre im DDR-Gefängnis ein. Jana darf kein Abitur machen, obwohl sie Einserschülerin ist. Sie will Dekorateurin werden, doch sie muss sich entscheiden: Wirtschaftskauffrau oder Chemische Reinigung. „Das war ein Schock. Gleichzeitig stellte man mir in Aussicht, sogar studieren zu können, wenn ich in die Partei gehe.“
Nach der Ausbildung soll Jana beim VEB Nahverkehr Schwerin für den „Sozialistischen Wettbewerb“ zuständig sein. Busfahrer motivieren und ihnen dann Wimpel überreichen. „Und das mein Leben lang? Auf keinen Fall. Ich wusste, ich bin jetzt selbst für mein Leben verantwortlich.“
Also weg. Hamburg ist ihr Ziel, wo nach einer Amnestie auch ihr Vater lebt. Über eine befreundete Polizistin bekommt sie kurzfristig ein Visum. Jana weiht nur die Mutter ein. Auch damals noch sperrte die DDR Fluchtwillige ein, auch am Flughafen Berlin, vor ihren Augen, ziehen sie welche raus. Jana schafft es. In Ungarn trifft sie Josch, auf einem Campingplatz 170 Kilometer vor der Grenze. In der Nacht von 8. auf 9. September machen sie sich auf, erst mit dem Zug, dann per Anhalter. „Wir wussten gar nicht, wo wir genau hinmüssen“.
Noch wird die Grenze kontrolliert, wenn auch ohne Schießbefehl. Erst einen Tag später, am 10. September, machen die Ungarn sie offiziell auf - was Jana und Josch nicht ahnen. Engländer nehmen sie im Auto mit, bringen sie dahin, wo sie schon andere Leute gesehen hatten. Dann beginnt der Fußmarsch, im Dunkeln über Wiesen und Felder, dann über die Zäune. Einmal hören sie ein Auto, schmeißen sich auf den Boden, denken, jetzt ist es aus. „Wir hatten wahnsinnig Angst, aber es war für uns auch ein Abenteuer.“
Sie kommen in ein Dorf, vor einer Kneipe stehen Autos mit tschechischen und ungarischen Kennzeichen. „Wir dachten: Oh Gott, wir sind im falschen Land!“ Dann die Erlösung, einer kommt raus und sagt: „Ihr seid’s in Österreich“. Genau genommen in Nickelsdorf im Dreiländereck. In der Kneipe läuft der Fernseher: „40 DDR-Bürger sind heute nach Österreich geflohen“, heißt es da. „42!“, rufen die zwei. Verdreckt, ohne Geld, mit einer kleinen Tasche und einem Zelt. Nach einer Nacht auf dem Sportplatz trampen sie nach Wien, finden Hilfe in der deutschen Botschaft. Sie sind immer noch angespannt, aber auch glücklich und stolz. In einer Postkarte schreibt Jana an ihre Mutter: „Es ist kaum zu glauben, aber wir sitzen in einem Wiener Café. Wahnsinn. Es ist alles so unfassbar.“ Die Mutter hatte da schon ein Stasi-Verhör hinter sich, in dem sie immer wieder beteuerte, nichts gewusst zu haben. Erst nach 18 Stunden durfte sie gehen.
Jana und Josch kommen in ein Auffanglager nach Münster, dann nach Hamburg. In der neuen Welt herrschen andere Regeln. „Mein Vater hat uns zehn Mark gegeben und uns zum Jungfernstieg geschickt“, erzählt Jana. Bei Mövenpick bestellen sie, wie früher, zwei Mal zwei Kugeln Eis. „Macht zehn Mark“, kam zurück. „Seitdem wusste ich: Hier musst du immer vorher fragen, was es kostet.“ Schon zwei Monate später fällt die Mauer und Jana sieht ihre Mutter wieder. „Das hätten wir nie geglaubt. Und wir hatten bis zuletzt Angst, dass es Krieg gibt.“
In Hamburg bekommt Jana einen Job in der Verlagsbranche, macht eine zweite Ausbildung, findet Freunde. Doch Josch kommt nie im Westen an, so oft es geht, fährt er nach Schwerin. Schließlich trennen sich die beiden, Josch lebt seitdem in Schwerin.
Jana Buchholz liebt die Großstadt, die Freiheit. „Im Westen musst du dich selbst kümmern, das kannten wir anfangs nicht. Aber ich genieße es, viele Möglichkeiten zu haben.“ Zwei Jahre lebt sie in Madrid, bevor sie nach München zieht. In Schwerin ist sie nur zu Besuch. „Ich glaube, ich bin ein Wessi“, sagt sie. Doch dann schüttelt sie den Kopf. Beim Film „Das Leben der Anderen“ 2006, kam die Vergangenheit wieder hoch. „Ich saß im Kino und habe geheult. Genauso war die DDR.“
Seitdem lässt sie die Vergangenheit wieder zu. Sie las die Stasiakten ihrer Eltern, sprach viel mit ihrer Mutter. „Wir hatten all die Jahre nach vorne gesehen.“ An manches hat sie sich bis heute nicht rangetraut: Sie weiß wenig über die Verhaftung des Vaters, über seine Zeit in Einzelhaft und in Bautzen. „Wir werden darüber sprechen. Eines Tages.“
In München fühlt sich Jana wohl. Aber Heimat? „Ich glaube, ich bin heimatlos. Ich habe einen tollen Job bei einem Verlag, ich habe Freunde. Aber manchmal denke ich: Wohin geht’s jetzt?“
Angst vor der Zukunft hat sie nicht. „Ich habe das Gefühl, dass es nichts gibt, mit dem ich nicht klarkomme.“ Und das, so sagt sie, sei auch ein Ergebnis der Flucht. Dieses Abenteuers, das – so könnte man es sehen – im Grunde unnötig war, weil die Mauer kurz darauf ohnehin fiel. Für Jana ist ihre Flucht bis heute das Symbol für ihre Stärke. „Ich habe mich aus eigener Kraft befreit, das kann mir keiner nehmen.“
Tina Angerer
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