Baby Berlin ist jetzt erwachsen

Im Trubel der Maueröffnung war seine Mutter aus der DDR zum Feiern nach Westberlin gekommen, als bei ihr plötzlich die Wehen einsetzten. Ihr wird jetzt 20 Jahre alt - Pascal Picht, das Kind der Freiheit. Die AZ hat ihn getroffen -
von  Abendzeitung
Pascal Picht heute
Pascal Picht heute © kadi

Im Trubel der Maueröffnung war seine Mutter aus der DDR zum Feiern nach Westberlin gekommen, als bei ihr plötzlich die Wehen einsetzten. Ihr wird jetzt 20 Jahre alt - Pascal Picht, das Kind der Freiheit. Die AZ hat ihn getroffen -

Baby-Berlin ist knapp 1,80 Meter groß und steht auf der Terrasse eines Ferienhauses am Rande der Uckermark. Eigentlich heißt der junge Mann Pascal Picht, aber besondere deutsch-deutsche Umstände haben dafür gesorgt, dass er wohl bis an sein Lebensende das Kind der Freiheit bleiben wird. Denn als der kleine Pascal vor 20 Jahren zur Welt kam, ging die DDR gerade unter. Und Pascal war für einige Zeit das berühmteste Baby der Welt.

Ein kurzer Rückblick: Als SED-Funktionär Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 wie beiläufig nach 28 Jahren Mauer die Staatsgrenze für geöffnet erklärt, wollen Roger Picht und seine schwangere Frau Helga aus Prenzlau (Brandenburg) wie Millionen andere DDR-Bürger auch die Chance gleich nutzen. Denn wer weiß, ob die Politbürokraten aus Pankow ihre Meinung nicht plötzlich wieder ändern, oder die Russen aufmarschieren. Die Pichts zieht es wie magisch in den Westen. Sie wollen den Luxus sehen, den Kurfürstendamm, die Autos, die große Welt, die sie nur vom TV kennen. Ein Auto haben sie nicht, also nehmen sie einen der total überfüllten Züge. Es wird eine kleine Odyssee – aber sie schaffen es mit ihren drei kleinen Kindern tatsächlich bis nach Spandau, wo Roger Pichts Onkel und Tante wohnen.

Man weint vor Glück

Die Wiedersehensfreude ist riesengroß. Man liegt sich in den Armen, feiert, man weint vor Glück. Es ist ein Taumel der Emotionen, ein Extremzustand, der allen sehr nahe geht. Vor allem Vater Roger Picht, damals 31 Jahre alt. Im Haus der Verwandten bricht er zusammen. Ein leichter Herzinfarkt. Der Notarzt muss ihn ins Krankenhaus bringen. Während er noch versorgt wird, der nächste „Notfall“: Bei seiner Frau setzen die Wehen ein. So heftig, dass der kleine Pascal schon zwei Stunden später da ist. Dabei hatten die Ärzte den Geburtstermin doch erst für drei Wochen später errechnet. Aber wo alles Richtung Freiheit drängt, will offenbar auch der kleine Bub nicht länger eingesperrt bleiben. Er will raus. Egal wo und unter welchen Umständen.

Es passiert am 12. November im Westberliner Waldkrankenhaus. 52 Zentimeter ist er groß, 3552 Gramm schwer. Ein normaler Bub, wenn da nicht die dramatischen Veränderungen der politischen Großwetterlage gewesen wären. „Die Mauer ist weg, Baby-Berlin da“, titeln tagsdrauf die Zeitungen.

Mutter Picht muss den Reportern aus aller Welt immer wieder ihre Geschichte erzählen. Der gerade genesende Vater wird durch die TV-Nachrichten und die Talkshowmühlen gedreht. Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl schicken Glückwunschtelegramme. In den Medien haben Pascal Picht und seine Eltern vorübergehend Superstar-Status.

Von den Problemen der Einheit geprägt

Seitdem ist viel passiert. Pascal ist erwachsen geworden. Die Wirren der Wende und die Probleme der Einheit haben sein Leben geprägt. Es gab große Krisen, materielle aber auch private. Der Vater verlor den Job als Elektromeister bei der Reichsbahn. Und dann, als Pascal gerade zehn Jahre alt war, ging die Ehe der Eltern zu Bruch. Die Mutter zieht weg, die inzwischen fünf Kinder bleiben beim Vater.

Seit zwei Jahren macht Pascal eine Lehre als Tischler, wohnt beim Vater. Er war bereits in England, Frankreich und Italien. Im September hat er erstmals gewählt, „obwohl ich mit Politik nicht viel am Hut habe“. Wie die meisten in seiner Altersklasse trägt er Jeans und T-Shirt. Pascal Picht ist keiner, der große Auftritte braucht. Er ist noch jung und hofft, dass es auch für ihn eine bessere Zukunft gibt. Am liebsten natürlich daheim in der Uckermark, zumal auch seine Freundin Jessika dort wohnt. Aber auch Weggehen könnte ein Thema werden, „denn hier geht nichts voran“. Die Versprechungen der Politiker findet er „ätzend“. „Die reden viel und tun wenig.“ Zwar gibt es hier wirklich blühende Landschaften. Aber das liegt nicht am Aufbau-Ost, sondern an der unberührten Natur, die rund um Woldegk im Übermaß anzutreffen ist. Doch dafür können sich die Menschen in der Region nicht viel kaufen. Strukturschwach heißt das im Bürokraten-Deutsch.

„Die Leute hier haben gehofft, dass neue Industrie herkommt. Aber es kommt nichts!“, sagt Pascal Picht und schüttelt den Kopf. „Da ist die Landflucht ja kein Wunder. Schauen Sie sich doch mal um. Hier in der Gegend gibt es bald nur noch ganz Junge, ganz Alte und Arbeitslose!“

Mit seiner Firma arbeitet Pascal regelmäßig auf Baustellen in Hamburg oder Berlin. Dagegen hat er nichts, im Gegenteil: „Nur dass wir Ossis wesentlich weniger Stundenlohn bekommen als die West-Kollegen. Das ist doch nicht gerecht.“ Ungerecht findet er auch, dass diese Vorurteile gegen „die aus dem Osten“ noch da sind: „Wir arbeiten genauso hart und gut. Für die DDR kann ich nichts. Und besser als euch drüben geht's uns hier bestimmt nicht.“

„Alles wird besser, aber nichts wird gut", sang die legendäre Ostberliner Rockgruppe „Silly“ in den Wendejahren und traf damit den Nerv vieler ehemaliger DDR-Bürger. Und auch heute noch wird der Song oft gespielt, weil der Frust über die letzten 20 Jahre noch immer tief sitzt. Trotzdem gehört Pascal Picht nicht zu jenen fast 40 Prozent der Bewohner hier im Dreiländereck Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Polen, die die alten Verhältnisse zurückwünschen.

Dafür hat schon sein Vater Roger gesorgt. Er war nie in der Partei, engagierte sich in der Kirche und musste jahrelang Schikanen der Stasi ertragen: „Das vergisst man nicht!“ Zwar seien die alten Seilschaften noch da. „Aber ich kenne die Leute ja. Kein Vergleich zu früher. Es gibt keine Bevormundung mehr, keine Verdächtigungen, keine Angst mehr. Wir können reisen, wohin wir wollen. Nur der Geldbeutel bestimmt das Ziel.“

Sein Sohn spricht leise. Er ist freundlich, scheint sich in seiner Rolle aber offensichtlich nicht unbedingt wohlzufühlen. Warum muss er, der Lehrling aus dem Osten, immer auf hochpolitische oder soziale Fragen, von denen er wenig versteht, Antworten geben, könnte man sein unsicheres Lächeln deuten. Seine Freunde und Bekannten fragt niemand. Viel lieber würde er über seine Computer-Leidenschaft reden, über Musik und Partys. Aber danach fragen die Reporter ja nicht. Muss es denn immer die DDR sein? Er hat diesen Staat doch nie kennengelernt, scheint seine Körpersprache auszudrücken. Über das uralte Moped DDR-Marke „Simson“, das er gerade flottmacht, könnte er viel erzählen. Denn „schrauben macht mir viel Spaß“. Das ist seine private Welt, in der er gerne zuhause ist.

Er wird es richtig krachen lassen

Und dann freut er sich natürlich auch auf seinen Geburtstag. Traditionell wird nicht in der Uckermark gefeiern: „Ist doch klar, dass wir nach Berlin fahren.“ Mit dem Vater geht es erst zum Waldkrankenhaus in Spandau, wo alles begann. „Wir nehmen Sekt und Partyhäppchen mit und stoßen mit allen an, die vorbeikommen.“ Das haben die Pichts in den letzten Jahren immer so gemacht. Und wenn die Passanten gefragt haben, was denn hier los sei, und sie die Hintergründe hörten, „waren sie immer ganz gerührt“.

Abends wird Pascal es dann richtig krachen lassen. Am Brandenburger Tor, im Bezirk Mitte oder am Prenzlauer Berg. „Da ist überall Party, da geht die Post ab.“ Und „Baby-Berlin“ ist natürlich mittendrin.

Karl E. Dittrich

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