Wenn sich der Tourist in Jesus verwandelt

«In Jerusalem liegt der Wahnsinn einfach in der Luft», sagt ein Psychiater und meint das ganz wörtlich. Allein bei den Osterfeierlichkeiten drehen jedes Jahr mehr als 20 Menschen durch - und glauben, sie seien Jesus oder Gott.
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Ein Tour-Guide demonstriert den Umgang mit dem Kreuz
dpa Ein Tour-Guide demonstriert den Umgang mit dem Kreuz

«In Jerusalem liegt der Wahnsinn einfach in der Luft», sagt ein Psychiater und meint das ganz wörtlich. Allein bei den Osterfeierlichkeiten drehen jedes Jahr mehr als 20 Menschen durch - und glauben, sie seien Jesus oder Gott.

«Jerusalem ist das heilige Zentrum dieser Welt, und ich bin das Herz von Jerusalem», sagt der Mann, der sich «Gott» nennt, und faltet die Hände zum Gebet. Er ist 29 Jahre alt, jüdischer Israeli und seit einer Woche Patient in der geschlossenen Abteilung des Herzog-Krankenhauses in Jerusalem. Er fühle sich wohl hier, sagt er, denn seine Mitpatienten glaubten an ihn. «Mein Vater hingegen kann noch immer nicht akzeptieren, dass ich der Allmächtige bin.»

«In Jerusalem liegt der Wahnsinn einfach in der Luft», sagt der Psychiater Pesach Lichtenberg. Gerade jetzt, zur Osterzeit, habe der religiöse Wahn Hochsaison. «Pilger, Touristen und Einheimische werden von der spirituellen Atmosphäre überwältigt.» Der 48-Jährige arbeitet am Herzog-Krankenhaus. Der Mann, der sich für Gott hält, ist sein Patient.

Symptome aus heiterem Himmel

Lichtenberg ist Experte für das «Jerusalem-Syndrom» - eine krankhafte religiöse Verzückung, die schon so manchem Reisenden in der Heiligen Stadt die Sinne verwirrt hat. «Das Syndrom trifft auch psychisch gesunde Menschen», sagt Lichtenberg. Bei ohnehin labilen Personen sei die Anfälligkeit jedoch deutlich höher. Die Symptome träten meist aus heiterem Himmel auf: «Die Patienten werden kurz nach ihrer Ankunft in Jerusalem plötzlich unruhig, sprechen salbungsvoll und verkünden etwa die Ankunft des Messias», sagt Lichtenberg. Manche würden Stimmen hören, andere Angstzustände haben oder auf der Straße predigen. «In manchen Teilen der Jerusalemer Altstadt kann das Ärger erregen», sagt Lichtenberg. Deshalb nehme man schwere Fälle im Krankenhaus auf. «Das geschieht vor allem zum Schutz der Patienten.»

20 bis 30 Patienten pro Jahr

Der Psychiater Yair Bar El habe der Erkrankung in den 80er Jahren den Namen gegeben, sagt Lichtenberg. «Das Phänomen ist aber schon seit vielen Jahrhunderten bekannt.» Eigentlich, sagt er, sei das Jerusalem-Syndrom gar keine anerkannte Diagnose. «Im internationalen Diagnoseschlüssel kommt es nicht vor. Die Symptome fallen dort unter die Kategorie «Akute und vorübergehende psychotische Störung».» Zwischen 20 und 30 Patienten mit Jerusalem-Syndrom behandle das Herzog-Krankenhaus jedes Jahr, in anderen Jerusalemer Psychiatrien seien es mehr, schätzt Lichtenberg.

Angehörige jeder Religion betroffen

Dieses Jahr fällt Ostern mit dem jüdischen Karneval Purim zusammen. Christliche Pilger in Kutten schieben sich neben Juden in bunten Kostümen durch die Gassen der Altstadt. Auf den ersten Blick ist an diesem Wochenende Spaß nicht von Wahnsinn zu unterscheiden. «Die Reiseleiter in Jerusalem kennen die Symptome schon und bringen die Patienten in die Erste Hilfe», sagt Lichtenberg. «Im Vollbild der Erkrankung ist die Diagnose auch für Laien eindeutig.» Theoretisch könne das Syndrom Menschen jeden Glaubens und jeder Nationalität treffen, sagt Lichtenberg. «Juden halten sich meist für den Messias, Christen für Jesus oder einen Propheten. Bei Muslimen stehen Erlösungsfantasien im Vordergrund.»

Heilung: Die Stadt verlassen

Um der Krankheit vorzubeugen, solle man am besten einen vertrauten Menschen bei sich haben, sagt Lichtenberg. «Der merkt dann schon, wenn etwas nicht stimmt». Die Therapie für das Syndrom ist so ungewöhnlich wie die Erkrankung selbst: «Wir raten unseren Patienten, so schnell wie möglich die Stadt, am besten das Land zu verlassen», sagt Lichtenberg und lacht. In den meisten Fällen stelle sich dann die spontane Heilung ein. In der Regel sei die Erkrankung eben ortsgebunden und vorübergehend. «Nur bei wenigen werden die Symptome zum chronischen Leiden.» Das Jerusalem-Syndrom beim Patienten «Gott» sei bereits an der Grenze zur schweren religiösen Psychose, sagt Lichtenberg. «Da ist die Prognose eher ungünstig.» Der Patient hat vielleicht seinen eigenen Weg gefunden, mit der Krankheit umzugehen. «Ich weiß, dass viele Menschen nicht an meine Göttlichkeit glauben. Sie sind trotzdem meine Kinder», sagt er und lächelt. (Sarah Schelp, dpa)

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