„Wenn ich bei Sprüngen in der Luft schwebe – das ist toll“

Noch ein Stück weiter zieht Michael die Ferse hoch, drückt den Fußspann ein wenig weiter vor. Halbe Spitze, gestanden auf wenigen Zentimetern. Michael und Béla trainieren täglich – und träumen von großen Solisten-Rollen.
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Michael auf dem Sprung – vielleicht ganz nach oben in die Ballett-Spitze.
Daniel von Loeper Michael auf dem Sprung – vielleicht ganz nach oben in die Ballett-Spitze.

Noch ein Stück weiter zieht Michael die Ferse hoch, drückt den Fußspann ein wenig weiter vor. Halbe Spitze, gestanden auf wenigen Zentimetern. Michael und Béla trainieren täglich – und träumen von großen Solisten-Rollen.

„Jungs bitte, glissé, dann échappé“, ruft Michaels Ballett-Lehrerin durch den Saal. Spannung. Von den Fingerspitzen bis zu den Zehen, Michaels Sehnen und Muskeln zeichnen sich beim Tanzen klar unter seiner engen Hose ab. „Fast gut, fast gut“, ruft seine Trainerin aufmunternd – aber auch und fordernd. „Aber Michael, wo war dein linker Fuß?“ Also noch einmal das Ganze: Schritt, Sprung, Position. Die Trainerin nickt.

Sechs Mal in der Woche trainiert der 15-jährige Münchner in den Studios der Heinz-Bosl-Stiftung in der Wilhelmstraße in Schwabing. Zwei Stunden täglich, manchmal auch noch mehr.

Auch in dieser Woche stehen für die Nachwuchstänzer Extra-Proben an: In München ist noch bis Samstag Ballettfestwoche an der Staatsoper. In diesem Rahmen findet heute Abend die große Gala statt, in der Studenten der Akademie in „Salade“ von John Cranko auftreten werden.

Der Saal der Ballett-Kaderschmiede erinnert an den 80er Jahre-Filmerfolg „Anna“: Auf dem weißen Linoleum klopfen die Spitzenschuhe, Ballerinen wispern leise, die Füße auf Brusthöhe auf die Stange gelegt. Auch Michael dehnt sich in den kurzen Verschnaufspausen, geht tief in die Knie, die Backen sind gerötet. Ob’s ihm Spaß macht? „Beim Ballett kann man alles rauslassen, was man so hat. Wenn ich bei Sprünge in der Luft schwebe – das Gefühl ist einfach toll.“

Mal „Schwanensee“ tanzen

Während andere Jugendliche auf dem Fußball-Platz bolzen oder vor dem Computer sitzen, träumt Michael von Prinzen- und Helden-Choreographien. Oder von Solisten-Rollen. In „Schwanensee“ oder „Don Quichote“ würde er gerne mal tanzen.

Ohne jegliche Vorkenntnisse hatte er, acht Jahre ist das jetzt her, die Aufnahmeprüfung an der Bosl-Stiftung bestanden. Er war sieben Jahre alt und „beweglich, mehr nicht“, wie er selbst meint. Seitdem ist für ihn klar: „Ich will Tänzer werden.“

Mit Mädchen hat er momentan eher weniger am Hut. „Ich bin einer, der Mädels gegenüber nicht so viel redet“, sagt Michael, „ich tanze lieber“.

„Der ist schwul’“

Früher ist Michael in der Grundschule oft wegen seiner Liebe zum Ballett geärgert worden. „,Der tanzt Ballett, der ist schwul’, haben die gesagt. Ich hab’ dann manchmal zugeschlagen, weil mich das so genervt hat.“ Mittlerweile geht er auf die Realschule. Und die Mitschüler haben sein Faible längst akzeptiert. „Jetzt ist es manchmal sogar cool, dass ich Ballett tanze.“

15 weitere Ballett-Buben zwischen zehn und 15 Jahren trainieren mit Michael. Aus Russland, Italien und der Schweiz kommen die Jugendlichen, um hier, mitten in Schwabing, echte Profis zu werden.

„Vor einigen Jahren gab es noch einen regelrechten Notstand an männlichem Ballett-Nachwuchs“, sagt Fred Hoffmann, Vorstand der Bosl-Stiftung. „Bei dem Mädchen hingegen, war, ist und bleibt es eine regelrechte Schwemme.“

Der Traum aller: Eine Solisten-Rolle. Die Chance stehen gut für die von der Bosl-Stiftung geförderten Nachwuchs-Tänzer. Von 346 Stipendiaten in dreißig Jahren haben 338 sofort nach der Ausbildung ein Theater-Engagment erhalten. Eine stolze Bilanz.

Auch Michael arbeitet auf dieses Ziel hin. Im kommenden Jahr kann er die Ballett-Prüfung zum Vollstudenten ablegen. Im so genannten Leistungszentrum werden die Jugendlichen dann unter den strengen Augen der ehemaligen Primaballerina Konstanze Vernon auf Weltniveau trainiert.

Talent ist nicht alles

„Michael hat Talent, aber das ist im Ballett eben nicht alles“, sagt seine Trainerin Tatjana Vogler-Nemtseva. „Um Solist zu werden, muss er sehr hart arbeiten.“ Das macht Michael. Er verzichtet auf sehr viel. „Meine Freunde sehe ich fast nur am Wochenende.“ Dann spielen die Buben Fußball.

Im Mai wird Michael in den Matineen der Bosl-Stiftung zu sehen sein. „Früher war ich vor den Auftritten schon mal aufgeregt. Aber jetzt ...“ Michael winkt ab. Fast wie ein alter Hase.

Ganz so cool ist der zehnjährige Béla noch nicht. Gestern tanzte er im Ensemble bei „Le Corsaire“ mit. „Ich war schon hibbelig“, gesteht er, „aber die Musik geht durch den Körper und ich tanze einfach. Wenn der Vorhang aufgeht, sieht man nur ein schwarzes Loch. Man lächelt – weiß aber gar nicht, für wen.“

Erst vor zwei Jahren hat Béla mit dem Ballett-Unterricht angefangen. „Mit meiner Mama war ich in ,Romeo und Julia’. Das war so toll, ich hatte Gänsehaut und hab das zu Hause gleich versucht nachzumachen“, erinnert er sich. Das erste Training in einer Augsburger Ballettschule folgte wenige Tage später, dann die Aufnahme in der Bosl-Stiftung. Vor ein paar Monaten schließlich zog seine Familie um. „Nur wegen dem Ballett“, sagt Vater Stephan, „ich in froh, dass ich nur einen Sohn habe. Noch so ein begabter Bursche, das würde ich gar nicht schaffen“.

Für Béla ist die Doppelbelastung von Schule und Tanz bis jetzt keine Belastung. Ob im Café oder im Bus, Béla hat überall gelernt, seine Hausaufgaben zu machen. „Ich schreib’ gute Noten. Sonst würde ich hier nicht tanzen.“

Eine Verletzung reicht, um seine Karriere zu beenden

Bei aller Träumerei weiß Béla: Eine Verletzung reicht, um seine Karriere zu beenden. „Ohne Ballett könnte ich nicht mehr leben“, sagt er, die braunen Augen auf seine Füße gerichtet. Sie sind sein Potential. „Oder doch, leben könnte ich. Aber ich will es nicht mehr ...“ Fußball, Tennis und Handball vermeidet Béla. Verletzungsgefahr! Und weil er „das wilde Umherlaufen“ nicht mag. Lieber hört er Musik – Nelly Furtado, Queen – oder schaut sich alte Ballett-Aufnahmen von Nurejew im Fernsehen an. „Ich dehne mich dabei vorm Sofa. Das ist wichtig für Tänzer.“

Schlechte Tage, an denen die Sprünge nur mäßig sind, darf es bei Tänzern nicht geben. „Man kann den Mund nicht zusammenkneifen, wenn man schlecht drauf ist. Dann muss man die Zunge an den Gaumen drücken und schon sind die Lippen locker.“ Immer lächeln, das kennt auch Michael. „Es ist teils Drill, teils Spaß. Manchmal habe ich keine Lust, ein schwaches Gefühl in den Beinen. Aber aufhören – niemals.“

Anne Kathrin Koophamel

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