"Was vom Menschen übrig bleibt" - Was Prostitution wirklich bedeutet

Edelprostituierte verrichten weit angenehmere Dienste als Frauen auf dem Straßenstrich. Mit Vorstellungen wie dieser räumt eine frühere Prostituierte in ihrem neuen Buch auf.
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Das Cover des Buches "Was vom Menschen übrig bleibt - Die Wahrheit über Prostitution"
dpa Das Cover des Buches "Was vom Menschen übrig bleibt - Die Wahrheit über Prostitution"

Prostituierte verrichten weit angenehmere Dienste als Frauen auf dem Straßenstrich. Mit Vorstellungen wie dieser räumt eine frühere Prostituierte auf. Immer wieder macht sie in ihrem Buch deutlich: Es gebe nichts, absolut nichts Gutes oder Schönes an Prostitution.

Marburg – Ein Viertel Jahrhundert ist es her, dass Julia Roberts im Film "Pretty Woman" einem reichen Geschäftsmann - gespielt von Richard Gere - zu Diensten war. Wohl selten wurde das Leben einer Prostituierte so verklärt wie in dem Streifen. Über die raue Wirklichkeit berichtet die Britin Rachel Moran in ihrem Buch "Was vom Menschen übrig bleibt".

"Weltweit werden geschätzte 14 Millionen Menschen prostituiert", schreibt die Stuttgarter Sozialarbeiterin Sabine Constabel im Vorwort des Buches. Allein angesichts dieser immensen Zahl müssten die Buchhandlungen von Lebensberichten solcher Frauen überquellen. "Das Gegenteil ist der Fall", so Constabel. Über kaum eine Lebenswirklichkeit sei so wenig bekannt wie über die von Prostituierte. "Rachel Moran bricht dieses Schweigen."

Lesen Sie hier: Amnesty International: Sex-Arbeit legalisieren

In Deutschland habe eine "milliardenschwere Prostitutionslobby" dafür gesorgt, dass in der Öffentlichkeit ein Bild von Prostitution fernab jeder Realität entstanden sei, schreibt Constabel. Dazu gehöre zum Beispiel, dass die Frauen immer häufiger als "Prostituierte" bezeichnet würden, von "Freiheit" und "Selbstbestimmung" sei die Rede. Die Lage habe sich stattdessen in den vergangenen Jahren massiv zugespitzt: "Heute ist etwa jede dritte prostituierte Frau unter 21 Jahre alt." Das seien allein in Deutschland über 100 000 Mädchen, fast alle aus den ärmsten Regionen Osteuropas.

Moran, 1976 geboren, wuchs mit vier Geschwistern in einem Sozialwohngebiet im Norden Dublins bei Eltern auf, die mit psychischer Krankheit, Drogenabhängigkeit und Suizidgefährdung kämpften. Mit 15 Jahren geriet sie als obdachlose Jugendliche in die Prostitution, mit 22 fand sie den Ausstieg. Als Bloggerin, Referentin und Autorin kämpft sie nun gegen die Verharmlosung und Legalisierung von Prostitution.

Scham, so habe sie gelernt, sei hartnäckiger als Trauer, schreibt sie. Sie ebbe nicht ab, verberge sich nur manchmal für eine Weile, um plötzlich so real und lebendig zu sein wie am ersten Tag. Die schlimmsten Defizite seien nicht die materiellen, sondern die emotionalen, allen voran die Einsamkeit. "Es ist die Erfahrung, dass man absolut unerwünscht ist, dass die eigene, bloße Anwesenheit an allen Orten und in allen Situationen ein unerquicklicher Umstand ist." Als obdachloser Mensch sei man immer unwillkommen, der gefühlte Wert sinke auf Null.

Moran erklärt, warum Prostitution eine typische Folge von Obdachlosigkeit ist und erzählt, wie sie sich den Verkauf an Männer anfangs vor sich selbst zur Mutprobe verbogen habe. Prostitutionsverfechter sprächen häufig von "erwachsenen Menschen, die in beiderseitigem Einverständnis handeln" - beide Aspekte seien einer näheren Betrachtung wert.

Im Buch wird mit der Vorstellung aufgeräumt, dass Straßenprostitution das Unterste vom Unteren sei, dass es so etwas wie Prostituierte gebe und Strippen eine Art harmloses Vergnügen sei. Es sei weder harmlos noch ein Vergnügen, von betrunkenen Männern obszöne Sachen zugegrölt zu bekommen, schreibt Moran. "Es ist durch und durch ein Angriff auf den eigenen Körper." Viele Menschen unterschätzten die Schäden durch die Erniedrigung beim Strippen oder bei pornografischen Aufnahmen. Und auch in einem Fünf-Sterne-Hotel könne man aufs heftigste gedemütigt werden.

Zu den vielen geschilderten Beispielen und Erfahrungen gehören die zaghaften Versuche der Frauen, sich Missbrauchserfahrungen mitzuteilen und dabei trotzdem immer die Fiktion aufrechtzuerhalten, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Sie erhoffe sich von ihrem Buch, dass es zu mehr Verständnis führe, "wie unmenschlich Prostitution schlicht und ergreifend ist", erläutert Moran dazu, warum sie sich ihren vielen schmerzlichen Erfahrungen beim Schreiben des Buches erneut stellte.

Gerettet habe sie selbst wohl vor allem ihr Gespür für ihre persönliche Identität, das auch in den schlimmsten Zeiten erhalten blieb - obwohl es für eine Prostituierte das Leichteste sei, den Sinn für sich selbst zu verlieren. Der zweite entscheidende Faktor war ihr Sohn, genauer: dessen näher rückender Schulanfang. Moran studierte nach ihrem Ausstieg Journalismus. "Das war keine Kleinigkeit." Sie habe extreme Ängste gehabt, das ständige Gefühl, nicht dort sein zu dürfen, schlichtweg nicht das Recht dazu zu haben. Viele Frauen verharrten auch aus diesem Gefühl heraus in ihrer furchtbaren Situation.

In Deutschland ist Prostitution seit 1927 eine legale, seit 1964 eine steuerpflichtige Tätigkeit und gilt seit der Verabschiedung des Prostitutionsgesetzes 2002 auch nicht mehr als sittenwidrig, sondern als "normaler Beruf". "Mit der fatalen Konsequenz, dass die komplette Legalisierung der Prostitutionsindustrie zu einer steigenden Nachfrage, zur Vergrößerung des Markts und zur Zunahme des Menschenhandels in Deutschland geführt hat", so Constabel in ihrem Beitrag.

Erst unlängst wurde der Vorstoß der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, sich künftig weltweit für die volle Entkriminalisierung von Prostitution stark zu machen, heftig kritisiert - vor allem von Frauenrechtlerinnen, aber auch vom Bund Deutscher Kriminalbeamter.

"Rachel Morans Buch ist das beste Werk, das jemals über Prostitution geschrieben wurde", wird Catherine MacKinnon, Professorin für Rechtswissenschaft in Michigan und Harvard, auf dem Titel des Buches zitiert. Es ist auf jeden Fall ein schonungsloses, ehrliches Buch jenseits aller beschönigenden Klischees.

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