Was heißt "woke"? Eine Debatte über Käse und Gesellschaft

Eine Käseverpackung mit vielfältigen Motiven sorgt für Diskussionen im Netz. Warum der Begriff "woke" dabei zum politischen Streitfall wird - und was dahintersteckt.
Sebastian Fischer, dpa |
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Jetzt soll sogar schon Käse "woke" sein. (Symbolbild)
Jetzt soll sogar schon Käse "woke" sein. (Symbolbild) © Sebastian Gollnow/dpa
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Berlin

"Die Debatte ist in ihrer Absurdität kaum zu überbieten." Das teilt ein Unternehmen mit, das in den vergangenen Tagen mit massivem Gegenwind und Bedrohungen umgehen musste - nicht etwa wegen fehlerhafter Produkte, sondern allein wegen des Designs einer limitierten Verpackung, die in einigen Wochen schon wieder geplant aus dem Handel verschwunden sein wird.

Für ihre Käsemarke Milram hatte die DMK Group mit Sitz in Bremen eine Sonderedition gestalten lassen und statt einer üblichen Kuh-und-Weide-Optik Comics dreier Kunstschaffender gewählt, die Menschen verschiedener Hautfarben darstellen. Ganz so, wie es in weiten Teilen Deutschlands aussieht.

Von Rechtsaußen ging es schnell zur Sache. Der Vorwurf: Die Bildchen seien "woke", sie zeigten nicht die Gesellschaft hierzulande. Jedenfalls nicht die, die sie sich wünschten. "Es war das, was man klassischerweise als Shitstorm bezeichnet", analysiert Josef Holnburger, Geschäftsführer des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas), das Radikalisierungstendenzen und Verschwörungserzählungen im Netz untersucht.

Woher "woke" eigentlich stammt

Und dabei spielt auch wieder ein Wörtchen eine Rolle, mit dem man offenbar große Aufregung generieren kann: "woke". Das sei inzwischen "schon zu einer Art Kampfbegriff geworden", so Holnburger.

Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich der Begriff (auch als Substantiv "Wokeness") zurückverfolgen - damals noch mit einer klar positiven Bedeutung. In der Kultur der schwarzen US-Amerikaner und später in der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre hieß woke sein: wachsam sein gegenüber Rassismus. Im Kontext der "Black Lives Matter"-Bewegung ab den 2010er Jahren wurde der Begriff einmal mehr relevant.

Gleichzeitig wurde "woke" Anfang der 2020er Jahre von den Rechten in den USA und später auch in anderen Ländern sehr stark verallgemeinert. "Woke wurde quasi zu einem allgemeinen Code für alles, von dem diese Rechten meinen, das falsch läuft in der Gesellschaft", sagt der Politikwissenschaftler Floris Biskamp. Er leitet an der Universität in Tübingen ein Projekt über die Grenzen des Sagbaren in politischen Diskursen.

Was "woke" heute heißt

"Fast alle, die den Begriff verwenden, sind sich darüber einig, dass er etwas Schlechtes beschreibt", so Biskamp. Wokeness werde einerseits als Chiffre für Übertreibungen bei Antirassismus, Sprachüberlegungen und Identitätspolitik genutzt, andererseits aber auch bei relativ harmlosen Dingen wie etwa aktuell der Käseverpackung. "Das Label "woke" findet Anwendung bei gemäßigter linker oder linksliberaler Politik im Mainstream genauso wie bei irgendwelchen randständigen Verrücktheiten."

Der Vorwurf von zu viel Diversität ist nicht neu. Schon öfter wollten Unternehmen mit bunter Werbung und Menschen verschiedener Hautfarben ein Signal dafür setzen, ihre Marke modern und jung erscheinen zu lassen.

Als etwa die Deutsche Bahn 2019 in einer Werbekampagne Reisende mit Migrationshintergrund abbildete, sorgte der Tübinger Oberbürgermeister und damalige Grüne Boris Palmer mit der Frage "Welche Gesellschaft soll das abbilden?" für Kopfschütteln.

Ein ähnlicher Aufreger sollte vergangenes Jahr mit dem Trikot der deutschen Nationalmannschaft in Pink-Lila hergestellt werden. Einigen missfiel die Farbwahl für den männlich geprägten Sport. Das Design verwische die Geschlechtergrenzen und sei "woke". Doch das verfing offenbar nicht: Für Ausrüster Adidas wurde der Dress zum Verkaufsschlager.

Was hinter dem Wokeness-Vorwurf steckt

In der Regel entspinnt sich solch eine Debatte von ganz Rechtsaußen. Eines der strategischen Ziele dabei: Aufregung generieren, um vermeintlich relevant zu bleiben. Protagonisten, die früh den Milram-Packungen zum Beispiel "anti-weiße Propaganda" vorwarfen, leben davon, viel Aufmerksamkeit zu erhalten. "Das ist ihr politisches und ökonomisches Lebenselixier", sagt Politikwissenschaftler Biskamp.

Der Milram-Hersteller verortet den Shitstorm "fast ausschließlich auf der Plattform X": Dieser werde "durch Fake-Accounts und Bots verstärkt und klar aus dem rechten Spektrum gespeist – inklusive AfD-Unterstützung".

Politikwissenschaftler Holnburger spricht von einer rechten Szene auf X, "die das Thema ganz stark bespielt hat". Ihm zufolge wollen die extrem Rechten alles, "was irgendwie nicht dem entspricht, was sie als Normalbild definieren", unsichtbar machen. "Es geht darum, neben Heterosexualität und Weißsein alle anderen gesellschaftlichen Erscheinungsformen zurückzudrängen", also etwa queere oder nicht weiße Menschen.

Wie mit solchen Vorwürfen umgegangen werden sollte

Wenn ein Shitstorm dieser Art aufbraust, "kann und muss ein Unternehmen das aushalten, weil hier eine besonders aktive und laute Gruppe im Netz Stimmung gegen Minderheiten macht", so Holnburger. Die Firmen sollten weiterhin das tun, was den Tatsachen entspreche: die Gesellschaft in ihrer Vielfalt abbilden.

So liest sich auch das Statement des Milram-Herstellers: "Was in bestimmten Kreisen als "woke" diffamiert wird, ist schlicht ein Spiegel unserer Gesellschaft."

Das Entscheidende, ob solche Debatten Fuß fassen, sehen die Wissenschaftler Biskamp und Holnburger im Verhalten der demokratischen Parteien. Machen sich etwa Konservative und Liberale die Empörung von Rechtsaußen über eine angebliche Wokeness zu eigen - und wenn ja, wie? Oder sagen sie einfach: "Nein, zu diesem Käse habe ich jetzt mal keine Meinung."

Am Ende bleibt ohnehin die Frage: Wie viele Leute regen sich tatsächlich auf, wenn sie nur zufällig dieser Packung im Supermarkt begegnen? Milram jedenfalls sieht auch zwei Wochen nach Einführung der Sonderauflage eine stabile Nachfrage: "Erste Rückmeldungen aus dem Handel bestätigen: Die Edition läuft unbeeindruckt vom digitalen Lärm."

Hinweis: Diese Meldung ist Teil eines automatisierten Angebots der nach strengen journalistischen Regeln arbeitenden Deutschen Presse-Agentur (dpa). Sie wird von der AZ-Onlineredaktion nicht bearbeitet oder geprüft. Fragen und Hinweise bitte an feedback@az-muenchen.de

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