„Was habe ich denn falsch gemacht?“
Alle 47 Minuten bringt sich in Deutschland ein Mensch um. Eine Mutter spricht über die Katastrophe, ihren 18-jährigen Sohn verloren zu haben. Um ihren Schmerz zu verarbeiten machte Petra Hohn eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin und ist heute Bundesvorsitzende des „Bundesverband Verwaiste Eltern in Deutschland.“
"Danke, dass es dich gegeben hat“, steht auf Carsten Hohns Grabstein, neben dem Foto. Wenn Petra Hohn hier ist, dann spricht sie mit ihrem Sohn, hält Zwiesprache mit ihm, ganz still, in der Hoffnung, dass er es vielleicht irgendwo hören kann. „Hier fühle ich ich mich meinem Sohn besonders nahe“, sagt sie. Es gibt aber noch einen anderen Ort, den sie besucht, wenn sie ganz nah bei Carsten sein will. Dann fährt sie zum See, sitzt am Ufer, den Blick raus aufs Wasser – das war das letzte, was Carsten Hohn gesehen hat. Hier hat er sich in sein Auto gesetzt und mit den Abgasen umgebracht.
Im November ist das zehn Jahre her. Kurz vor seinem 19. Geburtstag wollte Carsten Hohn nicht mehr - weder Freunde noch Eltern haben etwas geahnt. „Wir waren eine ganz normale Familie“, sagt Petra Hohn. „Bis zu dem Tag, als die Polizei mit der Nachricht in unser Haus kam.“ Petra Hohn nennt diesen Moment die „Stunde Null“, es war der Beginn eines anderen Lebens. „Dein Leben ist zerstört, beendet, man fängt ganz von vorne an, wie ein kleines Kind“, sagt Hohn, die ihre Erfahrungen in dem Buch „Plötzlich ohne Kind“ (Gütersloher Verlagshaus, 14,95) aufgeschrieben hat.
Lebenskrise
„Der Suizid eines Angehörigen stürzt die Hinterbliebenen in großes Leid, in eine tiefe Lebenskrise. Diese Todesart stellt das eigene Leben weitaus stärker infrage als ein Herzinfarkt oder ein tödlicher Autounfall“, sagt Elisabeth Brockmann von der Selbsthilfeorganisation „Angehörige um Suizid“ (Agus). Heute, am Welt-Suizid-Präventionstag, will Agus das Tabuthema zur Sprache bringen.
Rund 10000 Menschen bringen sich jährlich in Deutschland um, alle 47 Minuten einer. Zwar ist die Zahl seit dem Siebzigern rückläufig, was Experten auf verbesserte Therapie- und Hilfsangebote und und bessere Notfallmedizin zurückführen. Trotzdem sterben durch Suizid mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle, Drogen, Gewalttaten und Aids zusammen. Doch gesprochen wird nach wie vor wenig darüber. Deswegen fordert Agus eine Enttabuisierung, mehr Aufklärung in den Schulen, und flächendeckende Beratungsstellen für Gefährdete. Bei Agus will man aber auch denen helfen, die zurückbleiben. „Kaum jemand, der nicht selbst betroffen ist, kann ermessen, welch quälende Phasen von tiefer Trauer, Depressionen, Schuldgefühlen, Wut, Verlust des Selbstwertgefühls und Hilflosigkeit die Hinterbliebenen durchleben“, sagt Expertin Brockmann.
„Ihr Lieben, ich bin stolz auf euch, aber so will ich nicht leben“
Auch Petra Hohn quälte sich jahrelang. Als sie ihren toten Sohn noch einmal sah, streichelte sie seine kalte Hand und fragte: „Was habe ich denn falsch gemach? Was ist so schlimm gewesen, dass du nicht mehr leben wolltest?“. Auch Carstens Freunde waren vor den Kopf gestoßen, niemand hätte das geglaubt. „Ich kann das bis heute nur vermuten“, sagt sie. Seine Freundin hatte ihn verlassen. Genau am Jahrestag der Trennung ist Carsten an den See gefahren. „Ich weiß aber nicht, ob es das wirklich war.“ Anfangs, da war sie wütend auf das Mädchen. „Man sucht jemanden, der Schuld ist“, sagt sie heute. „Aber ich weiß, man kann Gefühle nicht erzwingen.“ Gesprochen hat sie mit der Frau bis heute nicht.
Was noch schwerer wiegt, waren aber die Schuldgefühle. „Ich verfluche meine Blindheit, deinen Kummer nicht erkannt zu haben“, schrieb sie in einem Brief an den toten Sohn. Immer und immer wieder hat sie gegrübelt. Kurz vor seinem Tod hatte Carsten mit seinen Eltern gemütlich auf dem Sofa gesessen und gesagt. „Ihr Lieben, ich bin stolz auf euch, aber so will ich nicht leben“. Nicht so leben wie ihr, wie die Eltern, das hatte die Mutter damals herausgehört – für einen 18-jährigen nicht ungewöhnlich. Heute denkt sie manchmal, das war sein Abschied.
„Wir können nicht in die Köpfe unserer Kinder schauen"
Die Verzweiflung ging so weit, dass Petra Hohn selbst nicht mehr leben wollte. „Ich fühlte mich völlig nutzlos“, sagt sie. Fast zwei Jahre nach Carstens Tod stand ihre Ehe vor dem Aus. Ihr Mann trauert ganz anders als sie, wollte nicht sprechen, wollte für sich bleiben. „Zwischen uns baute sich eine Mauer der Schweigens auf“, erzählt sie. Nach einer Fehlgeburt, für die sie sich die Schuld gab, nahm sie Tabletten. Carstens bester Freund war es, der ihr nach dem gescheiterten Suizidversuch den Anstoß zum Weiterleben gab. „Wenn Carsten dich so sehen könnte, würde er wieder aufstehen und dich aufrütteln. Er fand seine optimistische, schicke Mutter doch immer so klasse“, sagte er. Petra Hohn fand Hilfe in einem Trauerseminar, bei anderen betroffenen Eltern. Und sie begann eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin. Seit 2006 ist sie die Bundesvorsitzende des „Bundesverband Verwaiste Eltern in Deutschland.“
Ihre neue Aufgabe und das Wissen, dass jeder Mensch unterschiedlich trauert, rettet auch ihre Ehe. „Heute unterstützt mich mein Mann bei meiner Arbeit“, sagt sie. An Carsten denkt sie heute ohne Selbstvorwürfe. „Wir können nicht in die Köpfe unserer Kinder schauen.“ In einem Brief an ihren toten Sohn formulierte sie es so: „Du wolltest dieses Leben nicht. Es war nicht deine Welt. Schade, dass du es so gesehen hast.“ Auch heute noch kommt manchmal die große Traurigkeit. „Aber ich habe gelernt, mir meinen Platz und den Rahmen für diese Traurigkeit zu suchen“, sagt Petra Hohn. Meistens fährt sie dann zum See.
Tina Angerer
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