„Was für ein Wunder!“

Nach sechs Jahren Geiselhölle ist Ingrid Betancourt wieder frei. Ihre Retter überrumpelten die Farc-Guerillas mit einem gewaltlosen Trick Die „Jeanne d’Arc Kolumbiens“ ist wieder da – und möchte Präsidentin werden.
von  Abendzeitung
Wieder vereint nach sechs Jahren: Ingrid Betancourt mit ihren Kindern Melanie und Lorenzo. Die beiden flogen sofort von Paris nach Kolumbien, um dort ihre Mutter zu treffen.
Wieder vereint nach sechs Jahren: Ingrid Betancourt mit ihren Kindern Melanie und Lorenzo. Die beiden flogen sofort von Paris nach Kolumbien, um dort ihre Mutter zu treffen. © dpa

Nach sechs Jahren Geiselhölle ist Ingrid Betancourt wieder frei. Ihre Retter überrumpelten die Farc-Guerillas mit einem gewaltlosen Trick Die „Jeanne d’Arc Kolumbiens“ ist wieder da – und möchte Präsidentin werden.

Dass sie in wenigen Minuten frei sein wird, ahnt sie nicht. Ingrid Betancourt lässt sich mit gefesselten Händen in den weiß lackierten Hubschrauber abführen. Mit 14 weiteren Gefangenen soll es zum Befehlshaber der Terrororganisation Farc, Alfonso Cano, gehen. Dafür haben die Guerillas zwei Maschinen vom Typ MI-17 gemietet.

Dann geht alles ganz schnell: Die Hubschrauber heben ab, die Besatzung – allesamt Elitesoldaten der kolumbianischen Armee – überwältigen die Terroristen. „Wir sind von den nationalen Streitkräften“, sagt einer der Männer zu Betancourt. „Sie sind frei.“

Die Geiseln reagieren fassungslos. „Wir konnten es nicht glauben“, wird Betancourt später erzählen. Doch dann bricht die Freude heraus: „Der Hubschrauber fiel fast vom Himmel, weil wir herumsprangen, schrien, weinten und uns umarmten.“

Mit gewaltlosem Trick

Mit einem gewaltlosen Trick war es der kolumbianischen Armee am vergangenen Mittwoch gelungen, die ehemalige Präsidentschaftskandidatin und ihre Mitgeiseln zu befreien. Der Geheimdienst hatte Informanten in das Führungsorgan der Farc eingeschleust. Diese verrieten nicht nur den Aufenthaltsort der Geiseln, sondern speisten auch gefälschte Botschaften ins Farc-System. Die Geiselnehmer wurden aufgefordert, die in drei Gruppen aufgeteilten Gefangenen zusammenzulegen und per Hubschrauber zu Rebellenchef Cano zu schicken. Doch in der Maschine wartete das Befreiungskommando. „Gott, was für ein Wunder. So eine perfekte Operation, das ist beispiellos“, jubelt Betancourt. Ihre Mitgeiseln, darunter drei Amerikaner, werden sofort in ihre Heimat gebracht.

Ingrid Betancourt trägt die Tarnkluft der Armee, als sie am Flughafen von Bogotá ankommt. Blass sieht die 46-Jährige aus, um Jahre gealtert, als sie ihrer Mutter Yolanda Pulecio und Ehemann Juan Carlos Lecompte um den Hals fällt. Dennoch ist in ihrer Freude, im Strahlen ihrer Augen, der Esprit zu spüren, der sie einst zur Präsidentschaftskandidatin machte.

Rückblende: In den 90er Jahren wird die Grünen-Politikerin, die in Paris Politik studiert hat, ins Abgeordnetenhaus gewählt. Betancourt hatte im Wahlkampf Kondome verteilt. „Die Korruption ist das Aids unserer Gesellschaft. Schützen wir uns“, war ihr Slogan.

Die Katastrophe

2002 tritt sie bei den Präsidentschaftswahlen an. Doch im gleichen Jahr kommt die Katastrophe: Betancourt macht eine Wahlkampfreise in eine Rebellenhochburg im Süden des Landes. Dort wird sie entführt. Ein jahrelanges Martyrium beginnt: Die Farc-Rebellen zwingen Betancourt und ihre Mitgeiseln zu Gewaltmärschen, geben ihnen nur wenig Reis und Maisfladen zu essen. Nachts muss Betancourt angeblich mit einer Kette am Hals schlafen.

Bilder dringen kaum nach draußen. Am schockierendsten ist das Foto, das sie im vergangenen Jahr zeigt: eine abgemagerte sterbenskranke Frau, die mit gefalteten Händen zu Boden schaut. In einem Brief an ihre Mutter schreibt sie, der Tod erscheine ihr als „süße Option“. Fünfmal versucht sie zu fliehen – jedes Mal fällt sie wieder ihren Peinigern in die Hände.

„Ich danke euch Kolumbianern. Ich danke euch Franzosen und allen, die mich weltweit begleitet haben“, ruft Betancourt nach ihrer Befreiung. Und in Frankreich drängt sich Präsident Nicolas Sarkozy vor die Kameras. Betancourt besitzt einen französischen Pass, Sarkozy hatte sich für ihre Befreiung immer eingesetzt.

Betancourts Kinder Melanie und Lorenzo fliegen sofort nach Kolumbien, zu ihrer Mutter, die sie seit 2002 nicht mehr gesehen haben. Gestern Morgen ist die Familie wieder vereint. „Ich danke Gott für diesen wunderbaren Moment“, sagt Ingrid Betancourt, als sie Melanie und Lorenzo unter Tränen umarmt.

In Kolumbien herrscht Riesen-Freude. Auf den Straßen von Bogotá werden spontane Freuden-Feste gefeiert. „Wir haben das Gefühl, dass dies das Ende der Guerilla sein könnte“, sagt Bäckerei-Unternehmerin Cristina Ramìrez de Campuzano zur AZ. Viele im Land hoffen, dass Betancourt wieder als Präsidentin antritt. Sie selbst ließ bereits durchblicken, dass sie sich das durchaus vorstellen kann.

Volker ter Haseborg

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