Volkskrankheit Depression: „Ich konnte nichts mehr“
Depression ist eine oft unterschätzte Krankheit. Ein Münchner Zahnarzt hat es erlebt: Er hatte Angst von den einfachsten Dingen und wünschte sich oft den Tod. Wie er den Weg aus der Dunkelheit gefunden hat.
Jürgen Kern (Name von der Redaktion geändert) hat jahrelang zu denen gehört, die von anderen beneidet werden. Der fröhliche, kommunikative Mann kam 1980 nach München, eröffnete eine Zahnarztpraxis. Er hatte eine junge Frau, einen Sohn. „Ich war heiter, mein Beruf hat mich ausgefüllt. Niemals hätte ich gedacht, dass ich eine Depression kriegen könnte“, erzählt der heute 62-Jährige der AZ.
Die Krankheit kam schleichend. Mitte der 90er fühlte er sich immer öfter überfordert. Der Stress in der Praxis stieg: Immer mehr Bürokratie, immer mehr Kostendruck. „Ich konnte immer weniger die Medizin machen, die ich meinen Patienten bieten wollte“, sagt er. Kern war seit jeher engagiert; hat, wie seine Frau immer sagte, seine Patienten mit ins Bett genommen. Doch jetzt grübelte er länger, lag nächtelang schlaflos im Bett, zweifelte an seinem Können, seiner Routine. Als seine Mitarbeiterin, „die Seele der Praxis“ wie er sie nennt, kündigte, verlor er den Boden unter den Füßen. „Ich bekam Angst. Vor dem nächsten Tag, vor der nächsten Behandlung – völlig irrational.“ Irrational, aber übermächtig. Die einfachsten Dinge schienen ihm unglaublich schwer. „Ich hatte das Gefühl: Ich kann gar nichts mehr.“
Schon der Vater litt an Depressionen
Jürgen Kerns Vater litt 20 Jahre lang an Depressionen, erbliche Vorbelastung ist ein Risikofaktor. Kern wusste das. „Deswegen habe ich mir 2001 Hilfe geholt.“ Sein erster Arzt hat ihn ruhig gestellt, Psychotherapie gab es keine. „Irgendwann hat meine Arzthelferin bei meiner Frau angerufen und gesagt: ,Mit Ihrem Mann, das geht so nicht weiter.’“ Jürgen Kern ging in die Klinik, erst in Bayern, dann in Berlin. „Das war mein Schlüsselerlebnis“, sagt er heute.
Er bekam Medikamente, begann eine Psychotherapie. „Ich habe soviel über mich und die Krankheit gelernt.“ In der Klink waren endlich auch andere Betroffene, endlich Menschen, die sein ohnmächtiges Gefühl kannten. „Wer das nicht erlebt hat, kann es nicht verstehen“, sagt Kern und erzählt von einem Mitpatienten in der Klinik, der mit seiner Frau ins Kino gehen wollte – und es nicht schaffte. „Sie hat auf ihn eingeredet: ,Das täte dir doch gut, wir sind doch bei dir, komm, reiß dich doch zusammen, raff dich auf, es ist doch nur Kino. ’“
Was Depressive brauchen: Geduld und Akzeptanz
„Reiß dich zusammen“ – das ist für Depressive der schlimmste Appell. Als Versager fühlen sie sich ohnehin, danach meist noch mehr. Geduld und die Akzeptanz der Krankheit sind deswegen wichtige Tipps von Experten für Angehörige. Kerns Frau war behutsamer. „Sie hat mir immer das Gefühl gegeben: ,Ich weiß, dass es dir schlecht geht.’“
Im November 2003 kam Kern aus der Klinik. „Ich war damals sicher: Ich bin geheilt.“ Er arbeitet weiter, drei Jahre lang. Dann ging es wieder los, die Selbstzweifel kamen zurück, die Angst zu versagen.
Nach einer verschleppten Grippe brach Jürgen Kern mit einer Lungenentzündung zusammen – und rutschte wieder in die Depression, in die Verzweiflung, die keinen für Außenstehende nachvollziehbaren Grund hat, aber unkontrollierbar ist. „Man geht durch die Hölle. Mehr als einmal dachte ich an Selbstmord“, erzählt Kern. „Der Tod erscheint einem einfach nur als unglaubliche Befreiung.“ Getan hat er es nicht. „Ich war nahe dran, heute bin ich gottfroh. “ Die bedingunglose Unterstützung seiner Frau und seines Sohnes, haben ihm selbst in schwersten Momenten geholfen. „Ohne sie hätte ich das nicht überstanden.“
"Depressive gelten als Schwächlinge"
Vor zwei Jahren hat Jürgen Kern seinen Beruf aufgegeben. „Ich könnte nicht mehr in der Praxis arbeiten.“ In Behandlung ist er weiterhin. Er hat gelernt, für ihn riskante Situationen zu erkennen. Viel Kraft gibt ihm die ehrenamtliche Arbeit für Menschen, denen es schlechter geht als ihm.
Und er will helfen, Vorurteile abzubauen. „Depressive werden immer noch stigmatisiert, gelten als Schwächlinge. Dabei kann es jeden treffen.“
Jürgen Kerns Sohn ist 23, er hat die Krankheit des Vater hautnah mitbekommen. „Es geht ihm sehr gut. Aber natürlich habe ich Angst, dass er das auch bekommt.“ Es ist die Angst eines Vaters. Aber keine Angst mehr, die ihn lähmt.
Tina Angerer
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