Verschwiegen und vertuscht

Mit ein paar Fällen am Berliner Canisius-Kolleg fing es an, jetzt zieht der Missbrauchsskandal immer weitere Kreise: Fast 100 Verdächtige stehen im Dienste der katholischen Kirche
BERLIN Es sind ungeheuerliche Zahlen, die nach und nach an die Öffentlichkeit geraten: 94 Laien und Kleriker sind in den letzten 15 Jahren unter Missbrauchsverdacht geraten, berichtet das Nachrichtenmagazin „Spiegel“. 30 von ihnen wurden juristisch belangt oder verurteilt. Aber viele der Fälle waren schon verjährt, als sie bekannt wurden.
Im Moment werden mindestens zehn Kirchendiener verdächtigt. Sehr unterschiedlich gehen die Bistümer mit den Vorwürfen um: Von den 27, bei denen der „Spiegel“ nachfragte, antworteten 24. Die Bistümer Limburg, Regensburg und Dresden-Meißen verweigerten eine Auskunft zu den Missbrauchsfällen. „Wir wollen die aktuelle Diskussion nicht noch befeuern“, sagte der Sprecher aus Dresden-Meißen. Das Erzbistum Berlin gehört zu den wenigen, die im Internet auf die Affäre eingehen.
Mittlerweile sind Fälle von allen drei Jesuiten-Gymnasien in Deutschland bekannt. Die Rechtsanwältin Ursula Raue, die die Missbrauchsopfer des Canisius-Kollegs betreut, bekommt täglich E-Mails und Anrufe. „Das Ganze ist wie eine Lawine“, sagt sie. Jeden Tag werden es mehr, etwa 30 Ex-Schüler haben sich bisher bei ihr gemeldet.
Vergewaltigungen und schwerer sexueller Missbrauch sind nicht darunter. „Es geht um unangenehme Gespräche und Berührungen und darum, dass Jugendliche auf dem Schoß eines Padres sitzen mussten und gestreichelt wurden“, sagt die Anwältin. „Oder Schläge.“ Auch im Bonner Aloisiuskolleg und dem Kolleg Sankt Blasien im Schwarzwald litten Schutzbefohlene unter Übergriffen.
Der Rektor von Sankt Blasien, Pater Siebner, will die Vorwürfe rückhaltlos aufklären. Prüfen, „was los war im Orden, dass so etwas passieren konnte“. Er fordert, Schüler dazu zu erziehen, sich öffentlich zu beschweren, wenn ihnen Gewalt widerfährt. Ein ehemaliger Schüler des Aloisiuskollegs hat sogar ein Buch über die jahrelangen Demütigungen geschrieben: In der sechsten Klasse musste sich Miguel Abrantes zum ersten Mal vor einem Pater ausziehen, ein Jahr später machte ein Jesuit Nacktfotos von ihm. „Sacro Pop. Ein Schuljungen-Report“ erschien 2004 und erregte wenig Aufsehen.
„Nach der Veröffentlichung hat mir niemand geglaubt“, sagt Abrantes. Nur einer der beschuldigten Pater entschuldigte sich schriftlich bei ihm, nachdem der Orden eine Missbrauchsbeauftragte eingeschaltet hatte.
Bei der Tagung der Deutschen Bischofskonferenz, die am 22. Februar anfängt, wollen sich die Oberhäupter der katholischen Bistümer mit dem Skandal auseinandersetzen. „Die Enthüllungen zeigen ein dunkles Gesicht der Kirche, das hat mich erschreckt. Wir wollen das Thema offen angehen“, sagte der Sekretär der Konferenz, der Jesuitenpater Hans Langendörfer. „Vielleicht muss die Prävention trotz aller Fortschritte noch besser werden.“lka