Tochter lernt ihre Mutter nach 71 Jahren kennen

Eine Zwangsarbeiterin bekommt in Deutschland ein Kind. Die Nazis nehmen es ihr weg. Jetzt hat sie die Tochter kennengelernt.
von  Rosemarie Vielreicher
Dieses Fotoalbum hat Margot Bachmann ihrer italienischen Mutter mitgebracht.
Dieses Fotoalbum hat Margot Bachmann ihrer italienischen Mutter mitgebracht. © ITS

Frankfurt am Main - Sie hat nicht miterlebt, wie ihre Tochter den ersten Zahn bekommen hat. Auch nicht die ersten wackeligen Schritte, ihre Einschulung, den ersten Freund, die ganz große Liebe, die Geburt ihrer Töchter. Auch nicht ihren Ruhestand. Margot Bachmann aus der Nähe von Frankfurt am Main hat ihr ganzes Leben ohne ihre Mutter verbracht. 71 Jahre im Glauben, sie sei tot.

Doch ihr Gefühl sagt ihr schon immer: Sie lebt. Und sie hat recht.

Wie die beiden getrennt worden sind: Margot Bachmanns Mutter Gianna ist Italienerin. Sie war unter dem NS-Regime in einem Betrieb für militärische Nachrichtentechnik als Zwangsarbeiterin eingesetzt.

Margot Bachmann kommt ins Heim – der Vater holt sie zu sich

Die 20-jährige Frau verliebt sich dabei in einen deutschen Soldaten – und wird von ihm schwanger.

Im Oktober 1944 kommt Margot zur Welt. Das Babyglück währt nicht einmal einen Monat: Im November nehmen ihr die Nationalsozialisten das Kind weg. Als Zwangsarbeiterin verliert sie die Vormundschaft, das Baby kommt ins Heim. Nach dem Krieg kehrt die Italienerin in ihre Heimat zurück. Sie denkt, sowohl der Vater des Kindes als auch Margot seien im Krieg gestorben.

Wie Margot Bachmann aufgewachsen ist: Doch der deutsche Soldat lebt und ist eigentlich schon mit einer anderen Frau verheiratet. Trotzdem holt er Margot aus dem Heim und zieht sie mit sieben anderen Geschwistern auf. Er erzählt ihr: Die leibliche Mutter ist ums Leben gekommen. Nachfragen sind nicht erlaubt. „Schon als Kind hatte ich das Gefühl, dass etwas daran nicht stimmte“, sagt die 71-Jährige heute.

Mutter Gianna ist 91 Jahre alt und lebt in Novellara

Ihre Neugier darauf, wo sie herkommt, ist so groß, dass sie nach dem Tod des Vaters beginnt, Hinweise auf ihre Mutter zu suchen. „Ich wollte wissen, wer meine Mutter war, ob wir uns ähnlich sind, möglicherweise Fotos und Auskünfte über sie finden“, sagt die 71-Jährige. Doch sie bekommt am Ende viel mehr. Sie findet ihre italienische Mutter Gianna.

Nach sieben Jahrzehnten. Die ist mittlerweile schon stolze 91 Jahre alt und lebt in der Kleinstadt Novellara zwischen Parma und Bologna. Am vergangenen Wochenende haben sich Mutter und Tochter zum ersten Mal nach 71 Jahren wiedergesehen. Die Mutter möchte allerdings nicht, dass Fotos von diesem Treffen veröffentlicht werden. Zu privat ist dieser einzigartige Moment für sie.

„Nie hätte ich zu hoffen gewagt, sie jemals in die Arme schließen zu dürfen. Jetzt bin ich überglücklich, dass es ihr gut geht und wir uns kennenlernen können“, zitiert der International Trace Service (ITS) die 1944 geborene Bachmann. Die Organisation hat das Treffen erst möglich gemacht.

Wie die 71-Jährige die Mutter aufspüren konnte: Sie kontaktierte den ITS, der wiederum in seinen Archiven nach Bachmanns Mutter suchte. Dort sind über 30 Millionen Dokumente über die Verfolgung durch das NS-Regime und Überlebende zusammengetragen worden. Es finden sich auch Informationen über Bachmanns Mutter aus Italien. Dass sich Mutter und Tochter wiederfinden, ist aber auch für die ITS-Mitarbeiter eine Besonderheit. „Was wir am Wochenende in Novellara erlebt haben, grenzt an ein Wunder“, so Friederike Scharlau. Sie hat das erste Familientreffen begleitet.

„Heutzutage ist es außerordentlich selten, dass sich Eltern und Kinder wiederfinden, die durch das NS-Regime getrennt wurden. Meist sind es Geschwister der nachfolgenden Generationen oder Cousins und Cousinen, die wir zusammenbringen können.“ Das nächste Treffen ist schon in Planung. Mit der ganzen italienischen Familie.

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