Suchtexperte im Interview: Seit Corona mehr Alkohol und Drogen
München - Vier von zehn Bayern verzichten wegen Corona auf gute Vorsätze. Im Gegenteil: In der Krise trinken viele sogar mehr Alkohol und nehmen auch sonst mehr Drogen. Der Suchtmediziner Tobias Rüther hat in seinen Sitzungen viele Prominente, denen er hilft, mit dem Rauchen, Kiffen oder Koksen aufzuhören. Sein Trick: das Suchtgedächtnis der Patienten löschen.
Mehr Alkoholkonsum während Coronakrise
AZ: Herr Rüther, es ist Winter, Lockdown, Freunde soll man nicht treffen und Hallensport ist verboten. Was bleibt einem da, außer zu trinken?
TOBIAS RÜTHER: An den Verkaufszahlen zeigt sich, dass die Menschen in der Corona-Krise mehr Alkohol trinken. Auch der Konsum von anderen Drogen hat zugenommen. Es gibt aber natürlich auch im Lockdown Tausende Alternativen zum Trinken.
Welche Auswirkungen haben Corona-Maßnahmen generell auf das Suchtverhalten?
Wir Psychiater sagen drogensüchtigen Menschen immer: Geht raus, sucht Freunde, tretet Vereinen bei. Das ist jetzt alles verboten und lässt sich online nur schwer ausgleichen.
Depressionen im Lockdown führen zu erhöhtem Alkoholkonsum
Sind junge Menschen mehr suchtgefährdet als ältere Menschen?
Ich habe einige depressive Studierende gesehen, die neu in der Stadt sind und keinen Anschluss finden. Jetzt durch den Lockdown kommen sie gar nicht mehr raus. Da erscheint Alkohol mit seiner belohnenden und angstlösenden Wirkung wie eine Lösung. Das größte Problem entsteht aber auch in Familien, die häufig auf engem Raum zusammenleben. Wenn der Vater oder die Mutter trinkt, sind Aggressionen programmiert. Wer noch ein normales Sozialleben am Arbeitsplatz hat, kommt etwas leichter durch die Krise.
Viele Suchteinrichtungen wie Ihre Suchtambulanz oder die Anonymen Alkoholiker konnten während der Lockdowns keine Treffen anbieten. Können die Online-Sprechstunden das ausgleichen?
Ja, das hat uns selbst überrascht. Natürlich geht das ein wenig auf Kosten der Qualität. Ob mit Mundschutz vor Ort oder ohne am Computer schenkt sich aber nicht viel. Unsere gute Entwöhnungsquote von 50 Prozent bei den Rauchfreikursen hat sich nicht viel geändert. Vor zehn Jahren wäre eine solche Krise für abhängige Menschen eine deutlich größere Katastrophe gewesen. Natürlich müssen Kursleiter online aber neue Wege gehen, nicht alles lässt sich eins zu eins übertragen.
Jeder zweite Raucher stirbt an seinem Konsum
Wie viel müssen Menschen rauchen, um zu Ihnen in die Tabaksuchtambulanz kommen zu können?
Sobald sie vom Rauchen nicht loskommen - das können auch nur drei Zigaretten am Tag sein. Wer nach dem 22. Lebensjahr angefangen hat, schafft es meistens, ohne unsere Hilfe aufzuhören. Die meisten Abhängigkeiten beginnen im Kinder- und Jugendalter. Von unseren 600 Patientinnen und Patienten im Jahr haben nur zehn bis 20 nicht deutlich vor dem 20. Lebensjahr mit dem Rauchen angefangen. Jeder zweite Raucher stirbt an seinem Konsum. Das sind allein in Deutschland 127.000 Menschen pro Jahr.
Wie gehen Sie bei den Rauchfreikursen vor, um das Suchtgedächtnis zu löschen?
Zuerst protokollieren die Menschen jede Zigarette, damit die Funktion des Rauchens klar wird, also wozu sie es brauchen. Die körperliche Abhängigkeit ist beim Nikotin nach 14 Tagen weg und der Entzug im Vergleich zu anderen Suchtmitteln ungefährlich. Das Problem ist: Wenn ich 20 Jahre zum Kaffee eine Zigarette geraucht habe, ist das im Kopf eingebrannt. Wir überlegen dann gemeinsam, was man stattdessen machen könnte und wie sich die Rückfallquote senken lässt.
Immer mehr Menschen nutzen E-Zigaretten, um sich das Rauchen abzugewöhnen. Bringt das etwas?
In diesem Punkt sind die Suchtforscher etwas uneinig. Für mich sind Umsteiger aber Nichtraucher. Sie dampfen zwar noch, aber E-Zigaretten enthalten circa 90 Prozent weniger Schadstoffe als normale Zigaretten. Raucher, die nicht aufhören können oder wollen, sollten also umsteigen. Natürlich raten wir, es ganz zu lassen. Aber die E-Zigarette ist die zweitbeste Lösung.
Auch Computerspielsucht kann im Lockdown entwickelt werden
Ist die Verfügbarkeit von Drogen durch den Lockdown zurückgegangen?
Das hatte ich vermutet, ist aber nicht so. Auch die Preise für zum Beispiel Straßenheroin sind nicht raufgegangen. Schmuggel hat sich in der Geschichte noch nie aufhalten lassen, das hat schon die Prohibition in den USA in den 20er-Jahren gezeigt.
Welche weiteren Suchtgefahren verstärkt die Pandemie?
Auf dem letzten Suchtkongress wurde vor allem vor der Computerspielsucht gewarnt. Natürlich kann das nur Hobby sein. Es gibt aber Jugendliche, die sechs bis acht Stunden am Computer sitzen, nichts für die Schule tun, kein Sozialleben mehr haben und aggressiv werden. Die Spiele sind so programmiert, dass die Menschen immer mehr Zeit damit verbringen. Das macht mir große Sorgen. Auch bisher illegale Portale für Online-Poker oder Online-Casinos sollen im Juli legal werden. Im Verborgenen ist es noch mal einfacher, sein Geld aus dem Fenster zu werfen.
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