Sie lehnen Staat, Demokratie und Recht ab: Wie Jugendliche in eine gefährliche Welt abdriften
Terroristen, Amokläufer und Gewalttäter im Kindesalter: Junge Menschen radikalisieren sich im Internet – und driften ab, in eine gefährliche Welt von Zerstörung und Hass. Der Amokläufer von Graz, der Anschlag am Olympiaeinkaufszentrum in München – und der islamistisch motivierte Anschlag in München.
Viele Kinder und Jugendliche haben den Draht zur Realität verloren. Der Psychologe Rüdiger Maas vom Institut für Generationenforschung in Augsburg gibt im Interview mit der AZ Einblicke in eine bedrohliche Szene.
AZ: Herr Maas, viele Menschen haben vor dem Hintergrund zahlreicher Messerattacken, Amokfahrten und ähnlicher Bluttaten den Eindruck, dass Gewalt in unserer Gesellschaft zunimmt. Ist das real oder möglicherweise auch durch die Medien gefördertes irreales Empfinden?
RÜDIGER MAAS: Wir sprechen hierbei von einem „Negativity Bias“ (negative Gefühle, Gedanken und Verhalten haben einen stärkeren Einfluss, d. Red.), der sehr stark durch eine einseitige negative Bespielung forciert wird. Negative Dinge betrachten wir intensiver und merken sie uns besser. „Heldentaten“ wie die kürzlich in Hamburg gestoppte Messerattacke durch den 19-jährigen Syrer Muhammad al-Muhammad werden viel weniger stark medial dargestellt. Wir konnten in unserer aktuellen Jugendtrendstudie belegen, dass das Unsicherheitsgefühl, die Ängste und das Stressempfinden in Deutschland bei Jugendlichen enorm angestiegen sind. Wir haben diese Studie aktuell in der Schweiz wiederholt, wo wir zu teils konträren Ergebnisse kamen, denn in der Schweiz fühlen sich im Schnitt die Jugendlichen wesentlich sicherer – und das in vergleichbaren Orten mit vergleichbar hohen Kriminalitätsstatistiken. Das heißt: In Deutschland trifft eine sehr stark negative Medien- und Soziale-Medien-Befeuerung auf eine insgesamt unsichere und ängstlichere Jugend. Dieser Teufelskreis verstärkt sich in Deutschland immer mehr bis hin zum „Doomscrolling“ (exzessives Konsumieren negativer Nachrichten, d. Red.) und analogem Meiden von diversen Plätzen.
Generationenforscher Rüdiger Maas: Gewaltanstieg ist nicht so groß, wie er wahrgenommen wird
Kann man eine oder mehrere Ursachen für Gewalt in der Gesellschaft identifizieren?
Wenn man die Gewaltstatistik von 2024 mit 2007 vergleicht, sind wir auf einem ähnlichen Niveau wie vor 17 Jahren. Was schlicht bedeutet, dass der Anstieg objektiv nicht so hoch ist, wie er jetzt subjektiv wahrgenommen wird. Die Ursachen für Gewalt sind vielschichtig. Da gibt es nicht den einen Auslöser, der auch noch losgelöst von anderen Faktoren allein betrachtet werden kann. Forciert werden kann im Allgemeinen ein Anstieg von Gewalt durch einen Anstieg von sozialen Ungleichheiten, ökonomische Unsicherheiten und politische Instabilitäten. Und tatsächlich haben wir immer mehr spaltende Kräfte in unserem Land. Zudem kann heute jeder Mensch bei jeder Art von Gewalt seine Handykamera darauf halten, das Video in Sozialen Medien teilen und somit vieles „bekannter“ machen, was früher eben für einen Großteil unsichtbar war.
Propaganda im Internet und gefährliche Verschwörungstheorien: Wie Jugendliche geködert werden
Die Gewalttäter sind zum Teil noch im Kindesalter. Welche Erklärung gibt es dafür?
Auf jeden Fall Social Media. Hier können sich ganze Foren und Gruppen bilden und vom Kinderzimmer aus radikalisieren. Neben linkem und rechtem Extremismus kommen Verschwörungstheoretiker und religiöse Extremisten hinzu, aber seit ein paar Jahren auch immer stärker Incels (englisch für unfreiwillig sexuell enthaltsam, d. Red.), die ebenfalls für einen Großteil an Amokläufen weltweit verantwortlich waren und sind. Die Gruppierung der Incels ist in der Bevölkerung immer noch ein kaum beachtetes Phänomen mit einem enormen Gefahrenpotenzial. Es würde mich auch nicht wundern, wenn der Amokläufer in Graz ebenfalls ein Incel war.

In einigen Ländern denkt man über ein Social-Media-Verbot für Kinder nach oder hat dies sogar schon eingeführt. Was halten Sie davon?
Sehr viel. In unserer deutschen Jungendtrendstudie befürwortet dies auch eine Mehrzahl der Jugendlichen selbst. Auch in der Schweiz sehen das die Jugendlichen ähnlich. Hier sprechen sich knapp 50 Prozent für ein Social-Media-Verbot unter 16 Jahren aus und 25 Prozent für ein solches unter 18 Jahren. Wenn das Verbot für alle Jugendlichen gilt, haben sie auch weniger den Druck, etwas zu verpassen, und für die nächste Kohorte an jungen Menschen ist es dann selbstverständlich, dass es nicht für junge Menschen ist, ähnlich bei Alkoholtrinken. Wenn man es konsequent reglementiert, kann es für die übernächste Generation völlig normal sein, Social Media erst mit 18 zu nutzen, so wie es für uns völlig normal war, Auto erst mit 18 Jahren zu fahren.
"Junge Menschen sehen Live-Hinrichtungen"
Was macht Social Media so gefährlich?
Fakt ist: Es gibt auf Social Media nahezu nichts, was junge Menschen nicht konsumieren können, das Ganze gespickt mit unpassenden Kommentaren, Likes und so weiter. So berichten uns schon junge Menschen, wie sie gesehen haben, wie Menschen live hingerichtet oder vergewaltigt werden, wie eine Katze in der Rolltreppe eingeklemmt wurde – und das Ganze mit blöden Kommentaren, aber im behüteten Kinderzimmer nebenan.

Sind das Anzeichen dafür, dass die gespaltene Gesellschaft „auseinanderfliegt“?
Leider sehe ich zurzeit kein Zusammenwachsen, sondern immer größere Spaltungstendenzen, immer mehr Menschen, die etwa das Parteiensystem, die Demokratie und so weiter ablehnen. Immer mehr Menschen, die sagen, „nicht mein Kanzler“, oder vor ein paar Wochen noch, „nicht meine Außenministerin“ und Ähnliches. Man kann sagen, den oder die habe ich nicht gewählt, wenn man aber sagt „nicht mein Kanzler“, dann hat es eine völlig andere Konnotation. Wir vom Institut für Generationenforschung sprechen mittlerweile bei unseren Politikuntersuchungen von „Brokenism“ (die Vorstellung, dass alles kaputt ist und niedergebrannt werden muss, d. Red.).
"Stumpfe Logik": Welche Rolle spiele die Migration?
Welche Rolle spielt die Migration für die Gewaltentwicklung in der Gesellschaft?
Diese Frage kann tatsächlich nicht zielführend sein. Leider wird es oft genutzt, begründet durch eine verkürzte Betrachtung, quasi die Migration als alleinige Ursache zu sehen und alle anderen sind fein raus. Nur ist es eben schlichtweg völlig falsch und auch überhaupt nicht mehr als Größe nutzbar. In vielen Grundschulen beträgt der Migrationsanteil über 50 Prozent. Was nutzt uns da so eine Betrachtungsweise? Wie beschrieben hatten wir 2007 den gleichen Anteil an Gewaltverbrechen bei viel weniger Migration. Auch könnten wir mit dieser stumpfen Logik den Grazer Amoklauf nicht erklären…
Inwiefern spiegelt sich in der Entwicklung ein „aus dem Ruder gelaufener“ Generationenkonflikt?
Hierzu habe ich aktuell ein Buch geschrieben. Einen wirklichen Konflikt haben wir gar nicht. Denn noch nie haben sich Eltern und Kinder so gut verstanden wie heute. Wir haben vielmehr in vielen Bereichen ein Aneinander-Vorbeisprechen. Dadurch kann es nicht zum „Konflikt“ kommen, denn das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „aufeinanderprallen“. Wie kann man aufeinanderprallen, wenn wir mittlerweile auf unterschiedlichen Ebenen kommunizieren?
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Maas.
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