Interview

Selbstfürsorge im Alltag: "Es geht darum, kleine Inseln aufzubauen"

Die Musiktherapeutin Vivian Mary Pudelko berichtet in ihrem ersten Buch von Selbstfürsorge im Alltag. Der AZ erzählt sie, wie das gelingt
von  Interview: Lisa Marie Albrecht
Sich in einem Café einen Kaffee holen und dann auf eine Bank setzen - auch das ist Selbstfürsorge, sagt Vivian Mary Pudelko.
Sich in einem Café einen Kaffee holen und dann auf eine Bank setzen - auch das ist Selbstfürsorge, sagt Vivian Mary Pudelko. © imago/Westend61

AZ-Interview mit Vivian Mary Pudelko: Die 47-jährige gebürtige Hamburgerin ist Musiktherapeutin, Yogalehrerin und nun auch Buchautorin. Sie lebt in Wien und ist als Referentin im Sozial- und Gesundheitsbereich sowie als Dozentin in der Musiktherapie-Ausbildung in Österreich und der Schweiz tätig.

AZ: Frau Pudelko, Sie sind Mutter von drei Kindern. In welchem Alter?
VIVIAN MARY PUDELKO: Sechs, zehn und elf Jahre.

Musiktherapeutin und Yogalehrerin Vivian Mary Pudelko
Musiktherapeutin und Yogalehrerin Vivian Mary Pudelko © Elodie Grethen

Wie viel Zeit bleibt Ihnen da, sich im Alltag um sich selbst zu kümmern?
Eine gute Frage, denn genau vor diesem Hintergrund bin ich zum Thema Selbstfürsorge gekommen. Ich habe dazu in der Schweiz geforscht und meine Masterarbeit schreiben wollen. Ganz am Anfang habe ich an einem Wochenendseminar zum Thema teilgenommen. Ich habe gedacht, ich schaue mir das mal so als Beobachterin an. Damals gab es erst zwei Kinder, und die waren zwei und drei Jahre alt. Und es war ganz schnell klar: Okay, hier geht es auch um mich! Zuerst ging es aber darum, was die Leute für sich tun.

"Es geht nicht um endlose freie Zeit"

Und was war das?
Da kam immer sowas wie: Massage, einen freien Abend, lesen. Und ich dachte: Das geht ja bei mir als Mutter gar nicht. Selbstfürsorge geht nicht. Und an diesem Wochenende habe ich dann gemerkt: Doch, es ist möglich, aber es sieht eben anders aus.

Nämlich wie?
Es geht nicht um freie Wochenenden oder um endlose freie Zeit. Sondern es sind kleine Momente, die Qualität im Alltag. Sich also zum Beispiel selbst einen Kaffee zu kaufen, obwohl die Kinder gerade quengeln, wenn man merkt, irgendwie ist es gerade zu viel, aber das ist jetzt wichtig für mich. Oder auch Dinge zu kochen oder zu machen, auf die man selber Lust hat. Das klingt so banal, aber das bringt eine ganz große Zufriedenheit. Und natürlich sollte man auch immer wieder für kleine Auszeiten sorgen. Ich selbst habe ja ein bisschen ein zweigeteiltes Leben, weil ich getrennt lebe. Das heißt, die Hälfte der Zeit bin ich mit drei Kindern zusammen. Und die andere Hälfte, alle zwei Wochen, bin ich für mich. Ich finde das sehr spannend, weil ich mich so auch in Singles einfühlen kann oder in Menschen, die ohne Kinder leben. Und ich denke, die Probleme sind ähnlich.

Leistungsdrang und Überforderung durch Nachrichtenflut

Welche Probleme sind das denn?
Ich selbst merke natürlich auch diesen Leistungsdrang und dass dieser Drang stärker ist, wenn die Kinder nicht da sind. Zum einen, weil ich das Gefühl habe, jetzt muss ich erst recht alles nachholen, was in der letzten Woche nicht ging. Aber auch unter dem Aspekt, dass ich mich und viele andere sich sicher auch darüber definieren. Und dass wir eigentlich oft, wenn wir mal ein Stück zurückgehen, merken, dass sehr viel weniger auch passt. Dass wir weniger machen können, weniger agieren, weniger auf alle Anfragen antworten. Gerade mit den ganzen Nachrichten auf so vielen Kanälen, E-Mails, Messenger, Social Media, die wir bekommen. Und die auch mich immer noch regelmäßig überfordern.

Selbstfürsorge klingt für die meisten Menschen vielleicht eher nach einem Wellnesswochenende, einer Badewanne, einer Maniküre – was verstehen Sie darunter?
Ich habe schon seit zehn Jahren eine Lieblingsdefinition, die von dem Schweizer Psychoanalytiker Joachim Küchenhoff stammt: Er beschreibt die Selbstfürsorge als eine Fähigkeit, also als etwas, was wir lernen und üben können. Wir können lernen, auf uns selbst zu schauen, unsere Bedürfnisse wahrzunehmen, unsere Grenzen. Und vor allen Dingen wahrzunehmen, wann wir uns überfordern und sensibel dafür zu bleiben. Überforderung gehört natürlich auch ein Stück weit dazu. Stress hat ja oft etwas Negatives an sich, aber wir brauchen auch einen gewissen Grad an Stress, um lebendig zu sein. Die Frage ist eher, wie man diesen Stress bewertet. Das alles ist natürlich höchst individuell.

Symptome erkennen und reagieren

Woran merke ich denn überhaupt, dass ich mich mehr um mich kümmern muss?
Auch das ist ganz unterschiedlich. Es gibt viele Menschen, die merken, es passt was nicht, die aber nicht gleich sagen können, was sie brauchen. In meinem Buch stelle ich zum Beispiel das sogenannte achtsame Selbstmitgefühl vor, was ich für ein ganz tolles Konzept halte. Dabei geht es darum, unangenehme Gefühle zuzulassen. Denn Selbstfürsorge ist ja nicht immer nur etwas Schönes. Es geht auch darum, den schwierigen Dingen im Leben Raum zuzugestehen. Und ich glaube, dass das für viele auch erstmal anstrengend ist, das nicht zu überspielen oder sich nicht abzulenken. Da muss man am Anfang auch ganz dosiert vorgehen.

Kaffee vor der Arbeit im Café trinken

In Ihrem Buch geht es explizit um Selbstfürsorge im Alltag. Zweimal im Jahr in den Urlaub zu fahren reicht also nicht?
Ich finde Urlaub super, denn gerade längere Pausen haben einen ganz großen Wert. Gleichzeitig finde ich es aber auch schön, im Alltag kleine Oasen aufzusuchen, sich kleine Inseln aufzubauen. Zum Beispiel vor der Arbeit: Es gibt vielleicht ein Café, wo Sie sich einen Kaffee holen und sich nochmal fünf Minuten auf die Bank setzen. Oder man setzt sich hin, schreibt ein paar Dinge auf oder zeichnet. Und das kann man den ganzen Tag über einbauen, in Übergängen, nach der Arbeit, bevor man sein Kind abholt, jemand anderen trifft oder irgendwas erledigen will.

Auch wenn es sehr individuell ist: Gibt es Dinge, die uns besonders guttun?
In meiner Arbeit hat sich gezeigt, dass es immer wieder um unsere drei biologischen Grundlagen geht. Das ist einmal das Schlafen, das Essen und Trinken und das Bewegen. Gerade wenn wir übernächtigt sind, werden wir dünnhäutiger, schneller gestresst. Regelmäßiges Essen ist auch wichtig – aber man sollte eben auch Dinge essen, die einem schmecken. Gleiches gilt für die Bewegung. Die ist sehr gut, um Spannung abzubauen. Aber man sollte dabei nicht denken: Ich muss das jetzt machen. Denn dann ist es schon keine Selbstfürsorge mehr.

Vivian Mary Pudelkos Buch ist schon im Handel
Vivian Mary Pudelkos Buch ist schon im Handel © ho

Wenn man sich selbst dazu zwingt, klappt es also nicht?
Genau. Wenn ich denke, das ist jetzt aber gut für mich oder das sollte man tun, dann ist es bei mir eigentlich sofort vorbei (lacht). Das gilt auch für Essen, das zu gesund aussieht, riecht oder klingt, da habe ich dann gar keinen Appetit mehr drauf. Man sollte immer wieder nach innen fühlen, was das Bedürfnis ist und was man selbst gerade braucht.

Haben Sie einen Tipp, wie man anfangen kann, im Alltag besser auf sich zu achten?
Ich würde für den Anfang empfehlen, sich vielleicht 15 Minuten Zeit zu nehmen. Und dann mal alles aufzuschreiben, was für einen selbst angenehm ist und was man schön findet. Dann kann man anfangen zu schauen: Wo sind denn Punkte, an denen ich ein bisschen Zeit für mich finden kann, und wenn es nur zehn Minuten sind? Ist das eher vor dem Schlafengehen? Oder in der Früh, wenn die anderen noch schlafen? Und dann sollte man sich das auch versprechen.

Wie meinen Sie das?
Angenommen, ich lese gerne. Dann kann ich mir konkret versprechen: Ich fange jetzt ein neues Buch an und lese an vier von sieben Tagen immer zehn oder 15 Minuten vor dem Schlafengehen. Wenn wir Freunden oder Kindern etwas versprechen, dann machen wir das in der Regel auch. Diese Loyalität sollte man auch sich selbst gegenüber haben.

Sie sagen, Selbstfürsorge kann man lernen. Gilt das für jeden?
Ja. Ich selbst habe lange in der Psychiatrie gearbeitet und da hat man sich auch viel mit schwierigen Dingen auseinandergesetzt. Und das Leben ist ja auch immer wieder schwierig. Für mich macht das Hoffnung, dass wir, egal, wie wir in die Welt gekommen sind, Selbstfürsorge lernen können – in kleinen Schritten.


Vivian Mary Pudelkos Buch "Darf ich das? Wie Selbstfürsorge im Alltag gelingt" ist seit Kurzem erhältlich. Kremayr & Scheriau, 160 Seiten, 22 Euro

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