Schwere Hungerkrise in Somalia: "Sie stehen mit nichts vor dem Nichts"
AZ-Interview mit Dirk Bathe: Der 57-Jährige arbeitet bei der NGO World Vision in der Kommunikation und war selbst schon mehrmals in Somalia.

AZ: Herr Bathe, in Somalia droht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren - diese Notlage geht angesichts des Krieges in der Ukraine und den Folgen gerade nahezu unter. Warum hat sich die Situation am Horn von Afrika so verschärft?
Dirk Bathe: Einer der Hauptgründe ist die mal wieder ausgefallene Regenzeit. In Somalia gibt es normal zwei Regenzeiten, eine große und eine kleinere. Die sind in den letzten Jahren komplett ausgeblieben. Wir beobachten in unseren Projekten, dass die Dürren immer häufiger und in kürzeren Abständen auftreten.
1,5 Millionen Kinder in Somalia von akutem Hunger bedroht
Wie wirkt sich das aus?
Das bedeutet, dass die Menschen in diesen Gebieten ihre Reserven verlieren – wenn sie überhaupt welche hatten. Sie stehen sozusagen mit nichts vor dem Nichts. Sieben Millionen Menschen in Somalia – das ist jeder Zweite – sind auf Hilfen angewiesen. 1,5 Millionen Kinder werden bis Ende des Jahres von akutem Hunger bedroht sein. Hunderttausende von ihnen sind jetzt schon unterernährt.

Wovon ernähren sich die Menschen aktuell?
Der importierte Weizen, die angebaute Hirse, teilweise Mais – das ist alles vollkommen weg. Jetzt müssen sie sich von Wildkräutern, Blättern und Gras ernähren.
Aber davon kann man ja nicht überleben.
Nein, das ist nur die Illusion von Essen und ein Hinauszögern des Todes. Wenn nicht ganz schnell und massiv Hilfe in Form von Lebensmitteln und sauberem Wasser kommt, gibt es für diese Menschen keine Alternative mehr. Rund 800.000 Menschen sind innerhalb Somalias auf der Suche nach irgendeinem Ort, an dem sie vielleicht noch Hilfe finden. Aber letztlich gibt es diese Orte nicht. Auch wir als relativ große Hilfsorganisation haben nur endliche Mittel, wir können nicht allen Menschen helfen.
Lebensmittelverteilung: So hilft Word Vision
Wie engagiert sich World Vision in Somalia?
World Vision ist schon viele Jahre in dem Land aktiv. In der jetzigen akuten Hungersituation versuchen wir den Menschen mit dem Dringendsten zu helfen: Nahrung. Wir tun das vor allem in der Region Baidoa, verteilen Lebensmittel und kontrollieren mit mobilen Kliniken den Ernährungszustand von Kindern. Wir versuchen ihnen mit einer nahrhaften Spezialernährung, unter anderem aus Erdnusspaste, auf die Schnelle zu helfen. Dazu kommen viele Krankheiten durch die Unterernährung. Durchfall zum Beispiel – ja, das gibt es selbst dann, wenn man gar nichts im Bauch hat. Auch Malaria, Hautkrankheiten, Atemwegserkrankungen treten auf – wenn ein unterernährter Kinderkörper auf solche Krankheiten trifft, ist keine Widerstandskraft mehr da.
Bringt all diese Not die Helfer nicht zum Verzweifeln?
Meine Kollegen vor Ort, mit denen ich in stetigem Kontakt stehe, verzweifeln eher an der Nicht-Reaktion der Internationalen Gemeinschaft. Bedingt durch die immer noch recht hohen Weizenpreise muss das Welternährungsprogramm – World Vision ist Partner davon – mit einer nicht steigenden Menge an Geld Lebensmittel einkaufen, die aber teurer geworden sind. Das kennt jeder selbst vom Supermarkt. Das heißt, man kann weniger kaufen und das Wenige muss auch noch auf mehrere Krisenorte verteilt werden.
Auch Äthiopien, Sudan, Kenia, Jemen, Afghanistan und Syrien von Hungerkrise betroffen
Inwiefern?
Eine akute Hungerkrise herrscht nicht nur in Somalia, sondern auch in Äthiopien, Sudan, Kenia, Jemen, Afghanistan, Syrien ... Angesichts dessen muss doch als Reaktion von der Internationalen Gemeinschaft folgen, dass man eine wesentlich höhere Summe bereitstellt, wie beim G7-Gipfel in Elmau beschlossen.
Das geplante Geld wird also nicht reichen?
Die 4,5 Milliarden Dollar Soforthilfe klingen erstmal nach viel, aber wir haben das ausgerechnet: Für jeden Betroffenen der 800 Millionen Hungernden auf der Welt sind das nur 5,70 Dollar. Das reicht bei Weitem nicht aus. Wir sind nicht naiv, wir können nicht die ganze Welt retten, aber wir müssen doch zumindest versuchen, so viele zu retten wie möglich.
Warum braucht es dringend mehr Hilfen?
Ein Grund – aber nicht der einzige – ist der Krieg in der Ukraine und der erst jetzt wieder anlaufende Weizenexport. Somalia ist hier zu 90 Prozent von der Ukraine und Russland abhängig. Wenn die Preise auf dem Weltmarkt so steigen, dass sich ein armes Land wie Somalia das nicht mehr leisten kann, hat das entsprechende Konsequenzen. Aber: Die Hungerkrise gab es auch schon vorher. Einer der entscheidenden Gründe: der Klimawandel! Die Dürren tauchen ja nicht plötzlich häufiger auf, dauern länger und sind intensiver. Die Hungerkrise ist auch eine Klimakrise. Hier muss angesetzt werden und es gibt ja Methoden.
"Zusammen entwickeln wir den Anbau von dürretolerantem Saatgut"
Welche zum Beispiel?
Wir arbeiten etwa mit Kleinbauern und Viehnomaden, die ihre Tiere verloren haben und jetzt zu Kleinbauern umgeschult werden. Zusammen entwickeln wir den Anbau von dürretolerantem Saatgut. Ein weiteres Feld: die Wiederaufforstung; die Bäume kühlen, Feuchtigkeit bleibt erhalten. Wir haben damit schon fantastische Ergebnisse erzielt. Das wirkt natürlich mittel- und langfristig; aktuell brauchen die Menschen einfach etwas zu essen.
Die kleine Regenzeit sollte im Oktober beginnen. Gibt es denn Hoffnung, dass zumindest diese noch kommt?
Nein. Alle Prognosen und Wettervorhersagen ergeben, dass auch die kleine Regenzeit, wenn überhaupt, nur wenige Tropfen bringen wird.
Wie halten die Menschen diese Aussicht aus?
Diese Menschen sind zwar selbst in den schlimmsten Krisensituationen stark und versuchen, auch dann wieder auf die Beine zu kommen. Aber auch in einem Land wie Somalia, in dem seit 1991 nur Chaos, Krieg, Hunger, Dürre herrscht, wo Terrorbanden die Verteilung von Lebensmitteln behindern, sind die Menschen irgendwann einfach müde. Todmüde.
Wie lange ist das noch auszuhalten, wenn bald – wie World Vision mitteilt – zum fünften Mal die Regenzeit ausfallen könnte?
Gute Frage. Es muss wieder regnen! Ohne Regen wird dieses Land irgendwann nicht mehr bewohnbar sein. Vielleicht noch in den Küstenregionen. Aber wenn der Regen gar nicht mehr kommt in den nächsten ein, zwei, drei Jahren, sehe ich schwarz.
"Wir sind politisch neutral und wollen nur humanitäre Hilfe leisten"
Sie haben schon die Terrormiliz Al-Shabaab anklingen lassen. Wie kann man überhaupt Hilfsgüter ins Land bringen und transportieren?
World Vision weigert sich, "Steuern" an die Miliz zu zahlen, beispielsweise bei einem Hilfstransport, bei dem sie einen Teil einfordern könnten, um uns weiterzulassen. Wir mussten das tatsächlich in Somalia auch noch nie machen. Wir stehen in Kontakt mit Vertretern von Al-Shabaab, sagen Bescheid, wann, wie und wo unsere Route sein wird - und dann lassen sie uns auch in Ruhe. Wir sind politisch neutral und wollen einfach nur humanitäre Hilfe leisten.
Was hat Sie besonders geprägt auf Ihren zurückliegenden Somalia-Reisen?
Als ein Kind vor meinen Augen verhungert ist. Wir haben versucht, in einer der mobilen Kliniken zu helfen, aber das Kind ist leider trotz Infusionen gestorben. Wie so viele.
Und Positives?
Wir hatten in Somalia das Projekt mit Viehnomaden, die schon damals alles verloren hatten. Es gibt in Somalia einen Spruch: Erst sterben die Tiere, dann die Menschen. Wir haben jedenfalls die Nomaden umgeschult etwa hin zu Fischerei oder auch zu Kleinbauern. Andere somalische Bauern trainierten sie. Das ist durchaus erst einmal ein schwieriger Wechsel, wenn ich vorher ein stolzer Viehnomade war und dann plötzlich mit der Hacke den kargen Boden bearbeiten soll. Aber sie haben sich wirklich damit angefreundet und sich darauf eingelassen – das war ein Moment, der mich hoffen lässt.
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