Mythos Autokino: Große Gefühle in Blech

Die Leinwand flimmert, aus den Boxen des Autoradios knarzt es: Heute vor 50 Jahren kam das Autokino nach Deutschland – und ist immer noch der perfekte Ort zum Knutschen. Ein Besuch in Aschheim.
von  Abendzeitung
Die Liebesszen[FOTOHIN_TEXT][BU]e auf der Leinwand, die Liebste im Arm: Das Autokino, hier die Tage in Gravenbruch bei Frankfurt, ist noch immer ein Ort für alle die, die nicht nur den Film genießen möchten.
Die Liebesszen[FOTOHIN_TEXT][BU]e auf der Leinwand, die Liebste im Arm: Das Autokino, hier die Tage in Gravenbruch bei Frankfurt, ist noch immer ein Ort für alle die, die nicht nur den Film genießen möchten. © imago

Die Leinwand flimmert, aus den Boxen des Autoradios knarzt es: Heute vor 50 Jahren kam das Autokino nach Deutschland – und ist immer noch der perfekte Ort zum Knutschen. Ein Besuch in Aschheim.

Wenn es langsam Nacht wird, kommt Amerika nach Aschheim. Eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung öffnet sich das Eisengatter, die Autos rollen auf den riesigen Parkplatz. Vorne 500 Quadratmeter Leinwand, oben der Sternenhimmel. Das Autokino im Osten Münchens ist Bayerns letztes seiner Art, Treff für Autofreaks und Kinoliebhaber. Und für Verliebte immer noch der perfekte Ort zum Knutschen.

Das Geschäft läuft schlecht an diesem Abend. Mehr als 50 Autos werden es nicht. Die große Zeit des Autokinos ist vorbei, das ist in Amerika auch nicht anders als in Deutschland. Vor 50 Jahren eröffnete in Gravenbruch bei Frankfurt Deutschlands erstes Autokino, in den ersten fünf Monaten kam eine Viertelmillion Besucher. Heute ist man in Aschheim froh, wenn es im Jahr 100000 sind.

Das Kino an der Münchner Straße gibt es seit 1968. „Der ,American Way of Life’ schwappte damals gerade rüber nach Deutschland“, erinnert sich Kino-Manager Walter Jann. Ich und mein Auto, das Gefühl der großen Freiheit, das sich auf dem Aschheimer Parkplatz besonders gut atmen ließ. Mit der letzten Reihe, „Love Lane“ genannt, in die sich im prüden Texas wie im katholischen Bayern knutschende Teenager in die Rücksitze des elterlichen Wagens kuschelten, und die so begehrt war, dass dafür sogar Aufpreis verlangt wurde.

Eigentlich paradox, sind die besten Plätze eigentlich direkt vor der Leinwand. Zumindest, wenn man nur in Ruhe den Film sehen möchte. Wobei das, was für sechs Euro pro Person über die Leinwand flimmert und aus den Boxen des Autoradios knarzt, oft nur Rahmenprogramm ist.

Was Richard Hollingshead, der Erbe einer Fabrik für Autopflegemittel aus Camden im US-Bundesstaat New Jersey, sicher nicht im Sinn hatte, als er 1933 als erster Kinofilme auf eine Steinmauer warf. Genauso wenig wie die seichten Schmuddelfime nach Mitternacht, mit denen in den Achtziger Jahren die Kinobetreiber den Publikumsschwund bekämpfen wollten. „Das gibt es heute nicht mehr, der Ruf hängt uns allerdings immer noch nach“, sagt Walter Jann.

In Wohnwagen rollen Familien an, vor der Aufführung rennen Kinder über den Parkplatz, Autotüftler fachsimpeln über die Vorzüge ihrer tiefergelegten Karossen. Man trifft sich in der Snackbar, isst Hamburger oder Hotdogs. Drinnen lässt eine Gruppe Frauen ihre Hüften zu türkischer Popmusik kreisen. Man ist erfinderisch geworden in Aschheim, die Vorführungen allein rechnen sich nicht. Jeden Samstag veranstaltet Walter Jann deshalb einen Markt für Gebrauchtwagen. „Damit subventionieren wir den Kinobetrieb“, sagt er. Die Einführung der Sommerzeit und das Aufkommen von Videokassetten und DVDs haben die Autokinos hart getroffen. Mit der Auswahl an Filmen riesiger Kinotempel kann Jann mit seinen zwei Leinwänden nicht mithalten, der Ton aus den Boxen der Autoradios mit dem pompösen Surround-Sound moderner Kinosäle auch nicht. An das Ende des Freiluftkinos glaubt Walter Jann trotzdem nicht.

Hier kann der Besucher all das tun, womit er im normalen Kino die anderen Besucher erzürnt. Man kann rauchen, die Schuhe ausziehen, telefonieren, das Geschehen auf der Leinwand kommentieren, an unpassenden Stellen lachen, Hunde mitbringen, den Pyjama anbehalten und rücksichtslos in die Popcorntüte greifen. Die gehört zu einem stilechten Besuch im Autokino wie Cola und Hamburger. Amerika eben.

Dass diese Erfindung und die Deutschen nicht so recht zueinander passen, analysierte der „Spiegel“ schon in den Fünfzigern: „Die Zuschauer stiegen, den Sinn des Auto-Kinos verkennend, während der Vorführung aus ihren Wagen und folgten dem Geschehen auf der Riesenleinwand im Freien, auf dem Trittbrett sitzend oder an die Kühlerhauben gelehnt. Erst als es zu regnen begann, verschwanden sie nacheinander im Innern ihrer Wagen.“

In Aschheim ist an diesem Abend der Himmel klar und die Luft trocken. Dann beginnt Amerika, 92 Minuten lang. Und alle bleiben sitzen. Christoph Landsgesell

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