Mein Freund, der Bruder: Ein Medizinstudent erzählt

Was Brüder auch sind - Verbündete, Rivalen, Freunde oder mal Feinde - sie kommen ihr Leben lang nicht voneinander los. Warum, das beleuchtet das aktuelle Buch von Tillmann und Benjamin Prüfer ("Mein Bruder", Scherz-Verlag 2009). Der Münchner Medizinstudent Jakob Siedlecki (20) beschreibt für die AZ die anrührende Freundschaft zu seinem „bro“ Martin (16).
Wollen zwei amerikanische Kumpel ihre enge Freundschaft betonen, nennen sich sich im Slang „bro" – als Zeichen der Loyalität, einer Art Blutsbrüderschaft. Obwohl Martin und ich deutsche Brüder sind, nennen wir uns augenzwinkernd auch „bro“, da wir wissen, dass sich zu unserer loyalen Bruderschaft eine enge Freundschaft gesellt. Und das, obwohl der Altersunterschied knapp fünf Jahre beträgt.
Als Martin und ich acht und zwölf Jahre alt waren, kam unser Klavierlehrer auf die Idee, uns vierhändig spielen zu lassen. Während andere Duos immer von A nach B fahren mussten, um miteinander zu musizieren, konnten Martin und ich das jederzeit und waren somit irgendwann tatsächlich recht gut. Für das gemeinsame Einsetzen haben Orchester Dirigenten, Trios brauchen Blickkontakt; bei Martin und mir funktioniert aber alles mittlerweile instinktiv. Wirft man einmal einen Blick auf die berühmtesten Klavierduos, man findet fast nur Geschwister. Da man mit seinem Bruder die meiste Zeit des Lebens verbringt, steht die Kommunikation einfach viel weniger unter Verbalisierungszwang.
Natürlich spielten wir Brüder als Kinder nicht nur zusammen Klavier. Wir schossen uns die Fußbälle im Garten um die Ohren, erfanden im Winter, sehr zum Leid unserer Eltern, Ballspiele für zu Hause oder gingen regelmäßig zum Tennis. Ich war natürlich älter und besser, vor allem in Letzerem, aber wir spornten uns gegenseitig an, waren Verbündete gegenüber den konkurrierenden Vereinsmitgliedern. Und übten, bis wir Turnierspieler waren. Der Höhepunkt war, als mir der zehnjährige Martin mit leuchtenden Augen eine neue Tennistasche schenkte mit den Worten "Für meinen Trainer". Ich war sein Trainer, sein Idol, dem es nachzueifern galt.
Stylische Frisur, schicke Klamotten und Mixtapes im Auto
Ich kam in die Pubertät, und damit kam eine Zeit, in der wir weniger gemeinsam hatten. Dann aber beobachtete ich mit Spannung, wie Martin zum Friseur ging und mit einer „stylischen" Frisur wiederkam, die meiner recht ähnlich sah. Wie er immer größer wurde, sich schicke Klamotten anzog und mich fragte, was ich für Musik hörte. Ich gab ihm einige CDs, stellte ihm Mixtapes zusammen, denen wir zu zweit im Auto lauschten.
Hatte Martin vor seiner Pubertät noch auf die Erklärungen unserer Eltern, ich werde langsam erwachsen, geantwortet, dann sei ich ja bald sein Vater, so musste er jetzt feststellen, dass die Natur weder aus mir noch aus ihm eine Art Vaterfigur gemacht hatte. Da er nun älter war und der Reifeunterschied somit minimiert, konnten wir all den Dingen gemeinsam nachgehen, die unser Elternhaus uns nahegelegt hatte. Wir gingen Windsurfen, fuhren zu zweit ohne Eltern in den Skiurlaub, fieberten den Veröffentlichungsdaten neuer Alben unserer Lieblingsbands entgegen.
Allerdings: Wenn der ältere Bruder erste Erfahrungen mit Mädchen macht, ist der Jüngere nicht allererster Ansprechpartner in Liebesdingen. Dafür kann er vom Älteren später, wenn es auch bei ihm soweit ist, exzellente Ratschläge erwarten.
Mit knapp 20 zog ich aus, um in München zu studieren. Seitdem merke ich, wie sehr Martin mir fehlt. Ich rufe häufig an, wir unterhalten uns lange, ich höre über das Telefon, wie er in die Tasten hämmernd Prokofjew intoniert, und fahre mittlerweile vor allem deshalb nach Hause, um Zeit mit ihm zu verbringen.
Auch wenn kleine Brüder oft unter dem Zwang stehen, Erfolgen des Älteren nachzueifern, haben sie es leichter, da bereits biographische Fußstapfen hinterlassen wurden, in die sie treten können oder nicht. Der Ältere ist ein Rivale: Hat er etwa das Abitur geschafft, besteht für den Jüngeren natürlich ein Ansporn.
Derselbe schräge Humor: "Always Look On The Bright Side Of Life"
Martin und ich gleichen uns extrem, da wir nicht nur genetisch ähnlich sind, sondern von den gleichen Eltern erzogen wurden, aus einer sozialen Sphäre stammen – und längst denselben schrägen Humor entwickelt haben.
Einmal beschlossen wir abends, mit Gitarre und Blockflöte bewaffnet durch die Felder am Rande unserer Heimatstadt zu ziehen. Die Menschen, die dort feierten, fragten wir: „Hat jemand einen Troubadour bestellt? Es schickt sich doch nicht, ein Lagerfeuer ohne Musik zu veranstalten.“ Am Ende beschallten wir die DLRG mit dem Hit „Always Look On The Bright Side Of Life". Solche absolut sinnlosen, aber vollends glücklichen Momente kann man wohl nur mit seinem Bruder genießen.
Jakob Siedlecki