Mehr als nur ein Spiel

Balsam fürs Ego: Was das Bruderduell für die Menschen in Istanbul bedeutet. Aber auch mahnende Stimmen: „Die Erfolge auf dem Fußballplatz lenken von der Wirklichkeit im Land ab.“ Die Demokratie habe in der Türkei immer noch einen schweren Stand. „Daran ändert auch ein Europameister-Titel nichts.“
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Stürmerstar Nihat ist zwar wegen einer Verletzung an der Leiste längst daheim – aber wenigstens die Dönerverkäufer am Taksin-Platz in Istanbul tragen noch sein Trikot.
dpa Stürmerstar Nihat ist zwar wegen einer Verletzung an der Leiste längst daheim – aber wenigstens die Dönerverkäufer am Taksin-Platz in Istanbul tragen noch sein Trikot.

Balsam fürs Ego: Was das Bruderduell für die Menschen in Istanbul bedeutet. Aber auch mahnende Stimmen: „Die Erfolge auf dem Fußballplatz lenken von der Wirklichkeit im Land ab.“ Die Demokratie habe in der Türkei immer noch einen schweren Stand. „Daran ändert auch ein Europameister-Titel nichts.“

ISTANBUL Uneinig sind sie sich nur über die Höhe: Drei zu Eins wettet Ibrahim, der Sesamkringelverkäufer. „Ach was“, sagt Murat Bey, der Lastenträger, „wir hauen sie weg! Fünf zu Null für die Türkei.“ Die anderen Männer in dem Istanbuler Teehaus nicken. An den Kugelaschenbechern vor ihnen steht der Rauch. Der Linoleum-Fußboden schimmert speckig im kalten Neonlicht. Eine Niederlage gegen die Deutschen? „Ausgeschlossen!“, sagen sie. „Dazu wird es nicht kommen.“

Die Zuversicht in der Türkei vor dem Halbfinalspiel am Mittwoch gegen Deutschland ist grenzenlos. Schon seit Tagen versinkt Istanbul in einem Meer rot-weißer Fahnen. Von den Wohnhäusern prangt drohend der Halbmond. Hunderttausende feierten auf den Straßen den Last-Minute-Sieg gegen Kroatien. Die Polizei sperrte für die Siegesfeier den gesamten Innenstadtbereich. Bengalische Feuer färbten den Himmel rot. Berauschte Anhänger stürzten Autos um.

Deutsche Panzer können jederzeit zuschlagen

„Wir sind bereit. Schenkt uns den Titel!“, schreibt die Tageszeitung Sabah. Zwar hätten die „deutschen Panzer gezeigt, dass sie jederzeit zuschlagen können“, aber das türkische Team sei „stark, mutig und unberechenbar“.

Die Fußball-Europameisterschaft bestimmt die Schlagzeilen in der Türkei. Das Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP und Premierminister Recep Tayyip Erdogan? Die drohende Staatskrise? Und wenn schon!

„Wie nirgendwo sonst in der Welt gehören in der Türkei Fußballspiele zu den wichtigsten Projektionsflächen nationaler Selbstbestätigung“, sagt der Soziologe Tanil Bora. Fußball ist in der Türkei nie nur ein Spiel. Es geht immer auch um Ruhm und Ehre für das ganze Land.

Geliebte Sieger, gehasste Verlierer

„Europa, Europa, höre unsere Stimme, höre den Klang der anmarschierenden türkischen Schritte“, singen die Fans in der Kurve.

Das Land liebt seine Sieger und geht mit Verlierern gnadenlos um. Nach der Vorrunden-Niederlage gegen Portugal wurden die Nationalspieler in den Medien als „Versager“ verhöhnt. Sie seien „eine Schande für das Land“ und hätten „es nicht verdient, die türkischen Farben zu tragen“. In den Kneipen flogen Gläser und Stühle gegen die Leinwände. Eine Woche später feierten Millionen die „Helden von Wien“.

Dass nun im Halbfinale ausgerechnet Deutschland wartet, verstärkt die Euphorie. In Istanbul findet sich kaum jemand, der keinen Verwandten in Duisburg, Berlin oder München hätte. Viele türkische Nationalspieler, wie der Münchner Hamit Altintop, haben in Almanya, in Deutschland, gelernt, Fußball zu spielen. Und so gibt es in den Kneipen, den Bäckereien und den Universitäten derzeit nur ein Gesprächsthema: Wer entscheidet das Bruderduell für sich - Deutschland oder die Türkei?

Ein Sieg gegen Deutschland wäre für die Türkei doppelt schön.

Fühlen sie sich doch von den Deutschen seit Jahren geringgeschätzt. Vor allem die Außenpolitik der Bundesregierung kränkt sie. Der vollwertigen EU-Mitgliedschaft des Landes steht Bundeskanzlerin Angela Merkel immer noch offen skeptisch gegenüber. Und nach dem Nein der Iren zum EU-Reformvertrag von Lissabon forderte die CSU erst vor kurzem wieder den sofortigen Stopp der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Am Bosporus bleiben solche Nachrichten aus Almanya natürlich nicht unbemerkt.

Da kommen die Erfolge der Nationalmannschaft fürs türkische Selbstbewusstsein gerade recht. Von einem Sieg soll das Zeichen ausgehen: Seht her, wir sind nicht schlechter als ihr! Der Istanbuler Schriftsteller und Fußballfan Murat Uyurkulak warnt indes davor, das Spiel politisch aufzuladen. „Die Erfolge auf dem Fußballplatz lenken von der Wirklichkeit im Land ab.“ Die Demokratie habe in der Türkei immer noch einen schweren Stand. „Daran ändert auch ein Europameister-Titel nichts.“

Maximilian Popp

Der 22-jährige Journalist lebt in Istanbul und pendelt zwischen der Türkei und Deutschland

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