Interview

Liebesbrief-Forscherin: "Die ganz eigene Romantik"

Sprachforscherin Eva Lia Wyss hat vor 25 Jahren ein Liebesbrief-Archiv gegründet. Wie sich die Botschaften (und Kosenamen) über die Zeit verändert haben.
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Ein Teil der Tausenden Liebesbriefe aus dem Archiv in Koblenz.
Ein Teil der Tausenden Liebesbriefe aus dem Archiv in Koblenz. © Uni Konstanz

München - AZ-Interview mit Eva Lia Wyss: Die Sprachwissenschaftlerin an der Universität Koblenz hat 1997 ein Archiv für Liebesbriefe gegründet. Rund 25.000 Stück sind dort seither abgegeben worden.

AZ: Frau Wyss, schreiben Sie selbst gern Liebesbriefe?
Eva Lia Wyss:
(lacht). Ich schreibe gerne Briefe, manchmal eher liebevoller, manchmal auch alltäglich.

Sie haben vor 25 Jahren ein Liebesbrief-Archiv - einmalig in Deutschland - gegründet. Warum?
Das war aus wissenschaftlichem Interesse heraus. Ich habe festgestellt, dass es im sprachwissenschaftlichen Kontext keine Forschung mit authentischem Briefmaterial gibt. Was es schon gab: literaturwissenschaftliche Arbeiten von Liebesbriefen. Diese Liebesbriefe sind aber oft auch für die Öffentlichkeit geschrieben worden. Ich interessierte mich für den alltagskulturellen Liebesbrief, von Menschen wie du und ich.

Wie machen Sie das?
Aus sprachwissenschaftlicher Sicht untersuchen wir die Briefform, die Formulierungen, zum Beispiel die Anrede und Kosenamen, auch Liebeserklärungen und die Grußformel zum Abschied. Generell interessiert uns auch in einem weiteren kulturwissenschaftlichen Zusammenhang, wie Liebe thematisiert wird, welches Repertoire an sprachlichen Liebespraktiken, welche Emotionen wir in Liebesbriefen finden - und wie sich dies im Laufe der Zeit verändert hat.

Die Sprachwissenschaftlerin an der Universität Koblenz hat 1997 ein Archiv für Liebesbriefe gegründet. Rund 25 000 Stück sind dort seither abgegeben worden.
Die Sprachwissenschaftlerin an der Universität Koblenz hat 1997 ein Archiv für Liebesbriefe gegründet. Rund 25 000 Stück sind dort seither abgegeben worden. © privat

Wie hat es sich über die Jahrzehnte und Jahrhunderte verändert?
Es gibt vier große Veränderungen. Zunächst der kommunikative Kontext: die Schreibgelegenheit. Im 20. Jahrhundert schreiben alle Menschen - sobald sie schreiben können - auch Liebesbriefe. Es verbessert sich im letzten Jahrhundert neben der Schreibkompetenz auch der Zugang zu Papier und Stift. In früheren Zeiten ist das Schreiben unterschiedlichen Eliten vorbehalten, im 18. und 19. Jahrhundert entdecken Bürgersleute das Briefeschreiben.

Die Kosenamen verändern sich mit der Zeit

Was unterscheidet sich noch?
Die Sprache der Briefe verändert sich sehr stark. Sehr verkürzt gesagt, zeigt sich eine zunehmende Auflockerung des Schreibstils über alle Schichten hinweg.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?
In einem Brief aus dem 18. Jahrhundert schreibt ein Verehrer an eine Lotte: "Ein göttliches Feuer strömt in meinen Adern (...). Dank sei es dem Himmel, dass er solche unvergleichliche Personen der Erde geschenkt hat, an welchen wir erkennen können, wie Engel beschaffen sind."

Das ist ja romantisch!
Ein Vergleich zu einem Brief eines jungen Mannes aus dem Jahr 2014: "Wie soll ich nur zwei Tage ohne Dich durchhalten? Ich dreh durch! Nun, so ist es, wenn man schrecklich verliebt ist. (...)"

Was ist die dritte Veränderung, die Sie wahrnehmen?
Sehr deutlich verändern sich auch die Kosenamen. Bei den älteren Briefen haben wir zum Beispiel Engel, Liebling, meine Teuerste, innigst Geliebte, mein Herzblatt. Zunehmend werden die Kosenamen kreativer. Zum Beispiel: meine Leopardendame oder mein bunter Grashüpfer, mein tapferer Tiger. Was interessant ist, dass auch Männer mehr und mehr mit erotisierenden und süßen Kosenamen angesprochen werden: mein Liebesgott, mein Knuddelmann, mein Feuerigel. Das ist alles nett gemeint (lacht). Als vierten Punkt haben sich auch die Liebeserklärungen verändert.

Inwiefern?
Es zeigt sich, dass die Liebeserklärungen immer mehr körperliche Empfindungen mitbenennen. Bei älteren Briefen spricht man eher noch vom Küssen, Umarmen oder der Sehnsucht. In neueren wird es schon konkreter, Sexualität wird beim Namen genannt.

Die Liebesbriefe werden inzwischen digitalisiert

Das ist alles sehr intim - werden die Briefe anonym eingereicht?
Teilweise sind die Namen dabei, teils anonym. Aber wir gehen natürlich sehr diskret mit diesen Materialien um, wir veröffentlichen Briefe nur dann, wenn eine vertragliche Erlaubnis vorliegt. Grundsätzlich achten wir streng auf die Einhaltung der Persönlichkeitsrechte. Wir gehen sehr sorgsam mit dem Vertrauen um, das die Briefspenderinnen und -spender uns schenken.

Sie haben schon über 25.000 Briefe erhalten, richtig?
22.000 sind sicher ausgezählt, aber wir haben schon wieder so viele bekommen, dass es längst über 25.000 sein müssen.

Haben Sie alle gelesen?
Nein, das ist nicht möglich. Wir haben begonnen, die Briefe zu digitalisieren, erst in Eigeninitiative an der Universität Koblenz und der TU Darmstadt, mittlerweile auch wieder gemeinsam im Projekt des Bundesamts für Bildung und Forschung "Gruß & Kuss - Briefe digital". Hier arbeiten wir bei Workshops und Liebesbriefstammtischen mit Bürgerinnen und Bürgern zusammen. Ein wichtiger Teil ist hier auch, die Briefe abzuschreiben. Die Handschriften müssen erst entziffert werden. Es handelt sich teils um sehr alte deutsche Kurrentschriften, aber auch neuere Briefe sind teils in sehr unleserlicher Schrift gehalten.

Die romantischen Zeilen stammen aus rund 52 Ländern - vergleichen Sie auch das?
Die Hauptvergleichsmöglichkeit besteht momentan zwischen Schweizer und deutschen Briefen. Die Briefe aus den anderen Ländern sind auch deutschsprachig, aus England, Brasilien - etwa, weil Deutschsprachige dorthin ausgewandert sind, dort gearbeitet haben oder Ähnliches. Wir nehmen auch anderssprachige Briefe auf, aber wir untersuchen sie derzeit noch nicht.

186 Liebesbriefe kommen aus Bayern

Sind auch bayerische Briefe dabei?
Sicher! Unserem Katalog auf der Website "liebesbriefarchiv.de" können Sie entnehmen, woher unsere Briefe stammen. Aus Bayern sind es aktuell 186 Briefe.

Und sind die Bayern romantisch?
(lacht). Ich hoffe es doch. In den Liebesbriefen zeigt sich natürlich die je eigene Form der Romantik.

Was bewegt Menschen dazu, ihre Gefühle, ihre Liebe niederzuschreiben und nicht einfach mündlich zu kommunizieren?
Das ist eine wichtige Frage! Einerseits gibt es eine gewisse Hemmung, wenn man einer Person die Liebe eröffnen möchte. Wenn man schreibt, kann man das Gesicht etwas besser wahren. Aber man schreibt die Liebesgefühle auch auf, weil man sie so besser festhalten kann, wenn man in Ruhe dasitzt und überlegt, dem Gefühl nachhört. Und schließlich ist ein Vorteil, dass man nicht unterbrochen wird! (lacht). Es wäre ja eine Zumutung, in einem Gespräch 20 Minuten ununterbrochen zu sprechen, während das Gegenüber nur zuhören dürfte. Letztlich ist der Liebesbrief auch eine kognitive und kulturelle Konstante. Die Menschen wissen, dass man mit einem Liebesbrief seine Liebesgefühle zum Ausdruck bringen kann. So bildet er eine Art kulturelles Gefäß, einen Rahmen, eine Einbettung der Gefühle.

Haben Sie Angst, dass der Liebesbrief ausstirbt bei all den modernen Kommunikationsmitteln?
Diese Angst habe ich eigentlich nicht. Es zeigt sich, dass der handschriftlich geschriebene Liebesbrief in andere Sphären umgelagert wird und eine andere Bedeutung erhält. Seit längerem, aber vornehmlich seit den 1980ern beobachten wir im Liebesbriefarchiv eine Zunahme von kurzen Formaten wie zum Beispiel der Zettelkommunikation. Das hängt damit zusammen, dass sich Paare, die zusammen wohnen, Zettelchen hinterlassen. Diese sind verwandt mit dem Liebesbrief. Neu dazu gekommen ist seit ein paar Jahren die Mode des kalligraphischen Schreibens zu besonderen Ereignissen. Auch die Messenger-Kommunikation ist mit dem Liebesbriefschreiben verwandt, hat aber andere eher auch alltägliche Funktionen für Paare und dient dem spontanen Austausch.

"Es ist ein offenes Archiv, wir freuen uns über Briefspenden"

Schreiben eigentlich eher Männer oder Frauen Liebesbriefe?
Im 19. Jahrhundert und dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts ist es tatsächlich so, dass der leidenschaftliche Liebesbrief ausschließlich von Männern geschrieben werden sollte. Die Frau als Angebetete - wir sprechen hier nur vom heterosexuellen Kontext - durfte nur zurückhaltend und züchtig antworten, da sonst ihr Ruf in Gefahr gewesen wäre. Das hat sich mehr und mehr geändert. Seit den 80er Jahren finden sich auch Briefe von Frauen, die sehr explizit leidenschaftlich sind.

Sie nehmen immer noch Briefe an, oder?
Gerne! Es ist ein offenes Archiv, wir freuen uns über Briefspenden. Das ist möglich über unsere Website oder man kann uns auch einfach per E-Mail anschreiben. Neben den eigenen Briefen werden uns tatsächlich sehr oft auch Dachboden-Funde überlassen oder Briefe, die sich manche auf Flohmärkten gekauft haben.

Welche würden Sie sich noch wünschen?
Ich hätte gern mehr Briefe aus den 60er und 70er Jahren, auch aus dem Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit. Hier haben wir zwar viele spannende Briefe, aber es könnten noch ein paar mehr sein. Aber wir nehmen Briefe auf, die gespendet werden! Jeder Brief ist sehr wertvoll.

Zum Schluss: Was macht einen guten Liebesbrief aus? Haben Sie Tipps?
Der Brief muss von der Person, die ihn bekommt, eindeutig als Liebesbrief, als Zeichen der Liebe verstanden werden. Daher ist es wichtig, die Situation gut einzuschätzen und auch über die Person nachzudenken und zu überlegen, wie man mit ihr "sprechen", was man ihr sagen möchte und schließlich vielleicht auch, was sie gern lesen würde.


Mit einer bereits ausverkauften "Langen Nacht der Liebesbriefe" feiert das Archiv am 24. September in Koblenz sein 25-jähriges Bestehen. Liebesbriefe können geschickt werden an die Mailadresse liebesbriefarchiv@uni-koblenz.de oder postalisch an: Liebesbriefarchiv, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, Institut für Germanistik, Prof. Dr. Eva L. Wyss, Universitäts-
str. 1, 56070 Koblenz.

Weitere Infos: www.liebesbriefarchiv.de

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