"Ich lag im Blut fremder Menschen und wartete auf meine Kugel"

Durch den Augenzeugenbericht der 22-jährigen Französin Isobel Bowdery bekommt das Blutbad im bataclan-Konzertsaal eine menschliche, persönliche Perspektive – abseits von kalten Nachrichten und Polizei-Meldungen.
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Pariser gedenken vor dem Bataclan-Theater den Opfern des Massakers.
dpa Pariser gedenken vor dem Bataclan-Theater den Opfern des Massakers.

Das Massaker, das mutmaßlich islamistische Terroristen am Freitagabend im französischen Bataclan-Konzertsaal anrichteten, ist in seiner Unmenschlichkeit kaum begreifbar. Durch den Augenzeugenbericht der 22-jährigen Französin Isobel Bowdery bekommt das Blutbad nun eine menschliche, persönliche Perspektive – abseits von kalten Nachrichten und Polizei-Meldungen.

Paris - Es ist ein erschütterndes Dokument, das die junge Frau auf Facebook veröffentlicht hat. Sie erzählt von unvorstellbarer Grausamkeit – und unsterblicher Liebe und Hoffnung. Sie schildert den Moment des Angriffs, ihre unvorstellbare Angst, aber auch ihre tiefe Dankbarkeit und ihre Hoffnung für die Zukunft:

 

"Man glaubt nicht, dass einem so etwas passieren könnte. Es war einfach nur ein Freitagabend auf einem Rock-Konzert. Die Atmosphäre war so ausgelassen, alle tanzten und lachten. Und dann, als die Männer durch den Haupteingang kamen und anfingen zu schießen, glaubten wir noch ganz naiv, dass das ein Teil der Show sei.

Es war nicht nur ein terroristischer Angriff, es war Massaker. Dutzende Menschen um mich herum wurden erschossen. Blutlachen bedeckten den Boden. Die Schreie erwachsener Männer, die die Körper ihrer toten Freundinnen hielten, durchdrangen den kleinen Konzertsaal. Die Zukunft zerstört, Familien untröstlich. In einem einzigen Moment.

Schockiert und allein stellte ich mich über eine Stunde lang tot, lag zwischen Leuten, deren Geliebte sich nicht mehr bewegten. Ich habe meinen Atem angehalten, versucht mich nicht zu bewegen, nicht zu weinen – diesen Männern nicht die Angst zu zeigen, nach der sie sich sehnten.

Ich hatte unglaubliches Glück, dass ich überlebt habe. Aber so viele andere nicht. Die Leute, die aus exakt demselben Grund wie ich dort waren, waren unschuldig. Diese Welt ist grausam. […] Die Bilder davon, wie die Männer uns wie Aasgeier umkreisten, werden mich mein Leben lang verfolgen. Wie sie akribisch ohne Rücksicht auf das menschliche Leben auf diejenigen in der Mitte des Innenraums anlegten, die schon angeschossen waren. Das fühlte sich nicht real an. Ich rechnete jeden Moment damit, dass jemand sagen würde, das sei alles nur ein Alptraum.

Aber als jemand, der das überlebt hat, kann ich die Helden etwas ins Licht rücken. Den Mann, der mich beruhigte und sein Leben riskierte, indem er meinen Kopf verdeckte, während ich weinte; das Paar dessen letzte Worte der Liebe zueinander dafür sorgte, dass ich weiter an das Gute auf der Welt glaubte; die Polizei, der es gelang, Hunderte zu retten; die Fremden, die mir von der Straße aufhalfen und mich während der 45 Minuten trösteten, in denen ich dachte, dass der Mann den ich liebe tot ist; der verletzte Mann, den ich zunächst für meinen Freund hielt und der mich, als ich erkannte, dass er nicht Amaury ist, in den Arm nahm und mir sagte, dass alles Gut werde, obwohl er selbst allein und verängstigt war; die Frau, die ihre Haustüre für die Überlebenden öffnete; der Freund, der mir Unterschlupf gewährte und loszog, um mir neue Kleidung zu kaufen, damit ich nicht mehr mein blutverschmiertes Top tragen musste; Ihr alle, die ihr mir liebe Worte der Unterstützung geschickt habt – Ihr alle lasst mich glauben, dass diese Welt das Potential hat, besser zu sein. Dass all das hier nie wieder passiert.

Aber am meisten sorgen dafür die 80 Leute, die in dem Gebäude ermordet wurden, die nicht so viel Glück hatten, die heute nicht aufwachen […]. Ich fühle mich privilegiert, dass ich während ihrer letzten Atemzüge da war. Als jemand, der fest davon überzeugt war, dass ich ihnen nachfolgen werde, verspreche ich euch, dass ihre letzten Gedanken nicht bei den Tieren waren, die das angerichtet haben. Sie dachten an die Personen, die sie lieben. Als ich im Blut fremder Leute lag und auf meine Kugel wartete, die meine gerade einmal 22 Lebensjahre beenden würde, dachte ich an jedes Gesicht, das ich jemals geliebt habe und flüsterte "ich liebe dich". Immer wieder.

Ich dachte an die schönsten Momente meines Lebens. Wünschte mir, dass die dich liebe, wissen wie sehr ich sie liebe, wünschte mir, dass sie unabhängig von dem, was mit mir passiert, weiter an das Gute im Menschen glauben. Dass sie diese Leute nicht gewinnen lassen.

Letzte Nacht wurden viele Leben für immer verändert und es ist an uns, jetzt bessere Menschen zu sein. Es ist an uns, die Leben zu leben, von denen die unschuldigen Opfer dieser Tragödie träumten, aber die sie sich leider nie erfüllen konnten. Ruht in Frieden, meine Engel. Ihr werden niemals vergessen werden."

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