Hin und weg auf Wolke 9
Andreas Dresens Film „Wolke 9“ thematisiert die Liebe jenseits der 60. Warum die Jungen darauf fliegen, wie die Alten (im Kino) ihre Liebe leben und die Möglichkeit der Jugend die Augen zu öffnen.
Wie fremdgesteuert läuft sie durch das sommerlich heiße Berlin, rennt die Treppen eines Mietshauses hoch. Verschwitzt, die Haare verklebt, steht sie vor seiner Tür, bringt dem Mann, den sie nur einmal gesehen hat, die umgenähte Hose. Ein langer Blick, dann fallen sie übereinander her, landen auf dem Teppich ...
Gleich in den ersten Minuten bringt Andreas Dresen seinen Film „Wolke 9“ auf den Punkt – und seine Protagonisten Inge (Ursula Werner) und Karl (Horst Westphal) zum Orgasmus. Wären die beiden Anfang 20 oder 30, wäre die Szene vermutlich schnell abgehakt. Die zwei aber, die wie im Rausch auf ihrer Wolke 9 dahinfliegen, sind Senioren – sie Ende 60, er 76.
Bei den Filmfestspielen in Cannes gab es nach der Vorführung minutenlange Standing Ovations und in den deutschen Top-Ten ist „Wolke 9“ in der ersten Woche bereits auf auf Platz 6. Ein Renner – vor allem bei den Jungen, heißt es aus den Kinos.
Comeback für die Alten
Was für ein Comeback für die Alten. Nach Mutmachern wie zuletzt Franz Müntefering in der Politik und Mickey Rourke in Hollywood verzaubert nun „Wolke 9“ die Jungen. Ausgerechnet sie, die Altsein bisher meist mit Kaffeefahrten, Anti-Aging-Cremes, Besenreisern, Bluthochdruck und toter Hose im Bett verbunden haben. Auf einmal interessiert sie, wie die Generation ihrer Eltern und Großeltern die Liebe lebt.
Im Kino tun Inge und Karl das impulsiv und mit befreiendem Lachen vor Glück, ohne Weichzeichner und diskrete Kamera, mit Falten und Altersflecken. „Schämst du dich nicht“, empört sich Inges Mann, nachdem sie ihm die Affäre gebeichtet hat, „in deinem Alter“. „Es ist halt passiert“, sagt sie. „Ist doch egal, ob man 16 ist, 60 oder 80.“
Liebe und Leidenschaft kennen kein Alter
Ein Funke, der überspringt – die Botschaft: Liebe und Leidenschaft kennen kein Alter. Da mag unsere medial geprägte Gesellschaft Lust und Sexualität noch so sehr mit Jugend und Attraktivität koppeln, „Wolke 9“ vermittelt neue Erkenntnisse.
Zum Beispiel so banale wie: Sex dient – außerhalb des Anti-Schnacksel-Schlosses von Fürstin Gloria – nicht (nur) zur Fortpflanzung, macht Lust auf mehr. Dass die Alten wollen, was die Jungen längst tun, scheint nicht länger ein Tabu. „Irgendwie wollte ich mir nie vorstellen, ob meine geschiedenen Eltern noch ein Liebesleben haben“, so eine Kino-Besucherin (39) gestern in München. „Nach ,Wolke 9’ sehe ich das anders. Gefühle kann man nicht einfach ausknipsen, sie halten jung. Und ohne verhüten zu müssen, kann man viel ungehemmter Sex haben. Schöne Aussichten.“ (Siehe Umfrage.)
Lust aufs Alter?
In einer Welt, in der alles makellos scheint, will man auf einmal das Normale sehen. Entrüstete sich die „Bild“ noch vor zwei Jahren nach dem TV-Film „Mathilde liebt“ mit Christiane Hörbiger und Michael Mendl: „Sex-Szene im TV mit 67!“, regen jetzt Speckröllchen statt Silikonbusen niemanden mehr auf. Kein verschämtes Gefummel unter der Bettdecke, sondern authentisches Stöhnen und Juchzen. Frauen und Männer können ausschauen, wie man halt mit 60, 70 oder 80 aussieht – und doch Schmetterlinge im Bauch haben wie bei der ersten Liebe.
„Das könnte auch den Jungen Mut machen – und Lust aufs Alter“, sagt Rolf Hirsch, Professor für Gerontologie in Bonn. „Das, was am Schönsten ist im Leben – ist auch im Alter kein Schweinskram. Da gibt es zwar noch Vorurteile, aber ein Liebesfilm wie ,Wolke 9’ kann was bewegen, kann zu einer neuen Offenheit zwischen den Generationen führen.“
Renate Schramm
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