Haiti: Barrikaden aus Leichen

Sogar Katastrophenhelfer haben so etwas noch nicht erlebt: Kein Trinkwasser, Seuchengefahr, Verwesungsgestank – das Leben zwischen den Toten macht die Überlebenden immer aggressiver
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Ein Bild aus den Straßen von Port-au-Prince. Dort liegen massenhaft Leichen
abendzeitung Ein Bild aus den Straßen von Port-au-Prince. Dort liegen massenhaft Leichen

Sogar Katastrophenhelfer haben so etwas noch nicht erlebt: Kein Trinkwasser, Seuchengefahr, Verwesungsgestank – das Leben zwischen den Toten macht die Überlebenden immer aggressiver

PORT-AU-PRINCE Kommt es nach dem großen Beben zum großen Aufstand? Am dritten Tage nach dem apokalyptischen Erdstoß von Haiti wächst in der Hauptstadt Port-au-Prince die Verzweiflung – und schlägt um in Wut. Ein Leben zwischen Leichen, keine Hilfe für Verletzte, kaum Nahrungsmittel, knappes Trinkwasser, Seuchengefahr: Schon haben verzweifelte Menschen begonnen, Barrikaden aus den überall herumliegenden Leichen und Steinen zu errichten.

Die Augenzeugenberichte übersteigen das menschliche Vorstellungsvermögen. „Überall liegen Leichen auf den Straßen, die Menschen kämpfen um jeden Bissen Essen“, schildert zum Beispiel Regina Tauschek der AZ. Die 43-Jährige ist Mitarbeiterin der Welthungerhilfe und arbeitete gerade in ihrem Büro, als alles um sie herum zusammenbrach. Sie kann die Verzweiflung der Haitianer verstehen, ihre wachsende Ungeduld.

Das kann auch David Wimhurst, Sprecher der UN-Friedensmission: „Wegen des langsamen Verlaufs der Hilfsmaßnahmen werden die Menschen langsam wütender und ungeduldiger. Wir alle merken, dass sich die Lage anspannt.“ Shaul Schwartz, ein US-Fotograf: „Es wird langsam hässlich hier. Ich habe zwei Barrikaden aus Leichen gesehen. Die Menschen haben es so satt, dass keine Hilfe kommt.“ Und das bereits den vierten Tag in Folge.

Mit ein bisschen Hilfe hätte zum Beispiel auch Harryssa Keem Clerge überleben können. Zwei Tage lang war das neunjährige Mädchen unter Trümmern ihres Elternhauses eingeklemmt. Sie weinte und schrie, hoffte auf Rettung. Immer verzweifelter versuchten Nachbarn und Freunde mit bloßen Händen, den Schutt von Zementbauteilen und verbogenen Metallstangen wegzuräumen. Ohne Bergungsgerät aussichtslos. Schließlich wurde der kleine Leib tot aus den Trümmern gezogen. Die Hoffnung, Überlebende in den eingestürzten Gebäuden zu finden, schwindet: 72 Stunden können es Menschen ohne Wasser aushalten.

Die Bilder aus den Straßen wühlen auf: Da liegen überall Leichen, teilweise zu Haufen aufgeschichtet. Dazwischen campieren Überlebende – viele auf dem nackten Boden, viele verletzt, unversorgt oder nur notdürftig verbunden.

„Man kann es nicht beschreiben“, sagt Karel Zelenka von der Hilfsorganisation Catholic Relief Services. „Die Katastrophe, die Schäden. Jeder trägt einen Schal oder etwas anderes vor dem Gesicht, weil der Geruch unerträglich ist.“ Manche entzünden Feuer auf den Straßen, um Fliegen und Leichengeruch zu vertreiben.

Weil die zehntausenden von Leichen bei Temperaturen von 27 Grad Celsius schnell in Verwesung übergehen und damit auch die Seuchengefahr wächst, wurde damit begonnen, die Toten abzutransportieren. Polizei-Pick-Ups sammeln hunderte Leichen von den Straßen ein. Dann werden sie vor dem zentralen Leichenschauhaus abgelegt – das erste Zeichen organisierter staatlicher Aktivität überhaupt. Im Leichenberg suchen Menschen ihre Angehörigen. Eine Frau beschreibt einem Helfer die Kleidung ihrer Tochter. Er hebt ein Tuch hoch, um nachzuschauen. Ein anderer ruft in den Berg: „Bruder? Bist du da?“ Der Geruch des Todes ist so stark, dass alle, die keine Maske tragen, die Hände vors Gesicht schlagen.

Nur wenige Meter weiter lagern Verletzte: Denn neben dem Leichenschauhaus ist das Zentralkrankenhaus. Auf dessen Parkplatz warten hunderte auf Hilfe. Wer beim Warten stirbt, wird von Helfern die wenigen Meter rüber auf den Leichenberg getragen.

Am Abend strahlt das Licht des Sonnenuntergangs in den Trümmerstaub. Das sind die letzten Eindrücke einer 26-Jährigen, die an einer Straßenecke stirbt. Sie sei bei dem Erdbeben verletzt worden und habe zwei Tage lang gelitten, berichten ihre Angehörigen.

Zusammen mit Passanten halten sie inne, sprechen ein Gebet, bedecken die Leiche mit einem Laken. Niemand weint, auch nicht der Vater. Er sitzt einfach da, scheinbar abwesend, aufgelöst.

US-Armee übernimmt Flughafen

Die Hilfe läuft an – aber nur langsam. Vor allem das Chaos am Flughafen wird zum Flaschenhals. Über der zerstörten Stadt kreisen Frachtflieger mit tonnenweise Hilfsgütern und können nicht landen. Viele drehen ab, wenn ihnen nach Stunden der Sprit ausgeht. Jetzt hat die US-Air-Force den gesamten Flughafen kurzerhand einfach übernommen und versucht, ihn wieder funktionsfähig zu machen, die Lotsen zu ersetzen und den Tower zu reparieren. Außerdem kommt Hilfe über den Seeweg: Für gestern wurden ein großer US-Flugzeugträger und mehrere Lazarett-Schiffe erwartet. Auch die Uno, durch 36 Tote und 160 Vermisste in den eigenen Reihen zunächst etwas gelähmt, wird nun aktiv. Sie will im Fußballstation ein zentrales Lazarett einrichten. mh/kasa

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