Expertin über einen nachhaltigen Lebensstil: "Wir lernen viel von Älteren"
AZ-Interview mit Anika Neugart: Die studierte Kulturwissenschaftlerin arbeitet als Eventmanagerin und schreibt auf ihrem Blog über bewusstes Reisen.
AZ: Frau Neugart, Sie informieren in "Simply Green" über die wichtigsten Nachhaltigkeitstrends von Lastenrad bis Achtsamkeit - welche davon leben Sie selbst?
ANIKA NEUGART: Den Autofrei-Trend. Ich habe kein eigenes Auto, sondern ein Rad und eine Bahncard. Zudem nutze ich Carsharing in meiner Stadt, damit komme ich super klar. Für Menschen auf dem Land, wo es weder Carsharing noch Bahn- oder Busanschluss gibt, ist ein Leben ohne eigenes Auto schwieriger umzusetzen. Außerdem besitze ich einen reduzierten Kleiderschrank und lebe Slow Fashion. Das heißt, ich kaufe sehr viel Secondhand- und Fair-Fashion-Mode. Seit 20 Jahren bin ich Vegetarierin und bewege mich seit ein paar Jahren in Richtung Veganismus. Zudem versuche ich, Flugreisen zu meiden, und meditiere täglich mindestens 15 Minuten. Ich würde mich auch als Minimalistin bezeichnen.
Anika Neugart hat ihren ganzen Besitz weggegeben
Was bedeutet das?
Vor einigen Jahren habe ich meinen ganzen Besitz weggegeben und bin in einen Wohnwagen gezogen – zwar nur als Testlauf für ein halbes Jahr, aber es war sehr befreiend. Wenn man danach an einen neuen Ort zieht, schafft man ganz bewusst nur das an, was man wirklich braucht.

Alles verkaufen – das klingt nicht so leicht.
Was schwerfällt, ist Objekte mit sentimentalem Wert wegzugeben, an denen viele Erinnerungen hängen. Bei mir waren das Fotos und Taschenkalender. Da habe ich für mich entdeckt, dass sich alles gut abfotografieren lässt und so die Trennung leichter fällt.
"Man kann nicht alle Trends parallel verfolgen"
Kann oder sollte man all diese Trends gleichzeitig verfolgen?
Sie widersprechen sich teilweise, deswegen kann man nicht alle 16 Trends parallel verfolgen, das geht gar nicht. Man kauft zum Beispiel viel mehr plastikverpackte Dinge ein, wenn man vegan lebt. Für nachhaltig denkende Menschen sind aber mehrere Trends auf jeden Fall machbar.
Wie kann ich als Anfänger in die nachhaltige Lebensweise einsteigen?
Mancher fängt vielleicht an, sich über seinen Plastikkonsum Gedanken zu machen. Dann beginnt man, über die Lebensmittel nachzudenken, die in dem Plastik stecken. Einmal angefangen, ist das wie ein Ball, der ins Rollen kommt.
"Minimalismus ist empfehlenswert für alle Menschen"
Was sind Ihre Top 3 der Nachhaltigkeitstrends, die Ihrer Meinung nach am sinnvollsten sind?
Minimalismus ist empfehlenswert für alle Menschen. Als Minimalist fragt man sich: Brauche ich das wirklich? Bereichert das mein Leben? Im Idealfall verlagert sich das Besitzdenken ins Immaterielle. Man interessiert sich mehr für seine Mitmenschen, für seine Hobbys, geht mehr in die Natur, anstatt beispielsweise shoppen. Minimalismus spiegelt sich in vielen anderen Trends wider wie etwa dem Tiny-House- oder Slow-Fashion-Trend. Sinnvoll ist - vor allem für Städter - der Autofrei-Trend. Empfehlenswert ist auch Achtsamkeit zu üben, also Meditation. Wer meditiert, ist besonnener und trifft bewusstere Entscheidungen. Das ist soziale Nachhaltigkeit, weil man anders mit seinen Mitmenschen umgeht und versucht, ein besserer Mensch zu werden.
Gibt es auch Trends, die sich als gar nicht so nachhaltig entpuppen?
Der Tiny-House-Trend ist einerseits ein guter Trend, um die ländliche Region zu stärken. Auf der anderen Seite ist er nicht so nachhaltig, wie man auf den ersten Blick denkt. Natürlich schränken die Menschen im Tiny House ihren Wohnraum stark ein und erzeugen damit einen geringeren CO2-Fußabdruck. Aber es kann nicht jeder in Tiny-Häusern leben, so viel Platz haben wir gar nicht in Deutschland. Und es ist auch nachhaltiger, in einer Wohnung zu leben, in einem Block, wo quasi gestapelte Tiny Häuser verbaut sind, weil das energetisch besser funktioniert. In einem Tiny House geht viel Wärme über die Außenwand ab, auch wenn es gut abgedichtet ist. In Wohnhäusern ist das anders. Wohnblocks sind letztlich auch platz- und ressourcensparender.
"Ziel ist nicht, alleine als Asket in einem leeren Raum zu sitzen"
Viele Themen scheinen eher Frauen-Themen zu sein: Slow oder Fair Fashion, also bewussterer Modekonsum, Einkaufen mit dem Lastenrad, Achtsamkeit - ist Nachhaltigkeit eine Sache der Frauen?
Die Trends werden oft von Frauen propagiert, weil diese stark in den Sozialen Medien vertreten sind. Auf Instagram oder Pinterest stellen sie sich mehr dar, fassen die Dinge in ästhetische Bilder und vernetzen sich. Deswegen macht es vielleicht den Eindruck, dass es hauptsächlich Frauentrends sind. Auf der anderen Seite haben wir eine junge Generation, die für Fridays for Future auf die Straße geht, die nachhaltiger leben möchte. Die Leute, die jetzt engagiert sind, sind Männer und Frauen, Jungs und Mädels.
Bei manchen Vorschlägen für einen "grünen" Lebensstil werden gerade Ältere denken, wozu auf den Komfort verzichten? Wer noch eine Zeit ohne Tiefkühltruhe oder Waschmaschine kennt, wird nicht auf Erdkühlschrank oder Handwaschmaschine umsteigen wollen, oder?
Wir lernen viel von der älteren Generation, die haben schon ganz viel richtig gemacht im Sinne der Nachhaltigkeit. Sie haben bescheiden gelebt, keinen Überkonsum gehabt wie wir heute, und vieles selbst gemacht. Aber, das ist richtig, die Frauen mussten Hausfrauen sein, weil jemand diesen Alltag bewältigen musste. Jemand, der die Wäsche von Hand wäscht und auch noch das Gemüse im Garten anbaut.
Also zurück in die 50er Jahre?
Man könnte vermuten, Menschen rutschen wieder in alte Rollenmuster, wenn sie beispielsweise autark, sprich selbstversorgerisch, leben wollen. Aber bei der Autarkie wird heute das moderne Gedankengut integriert. Vielleicht will ja der Mann zu Hause bleiben und die Kinder hüten, oder man lebt in einem Ökodorf.
"Im Minimalismus geht es um besonnene Bescheidenheit"
Darf man sich noch etwas gönnen bei einem minimalistischen, nachhaltigen Lebensstil?
Ziel ist nicht, alleine als Asket in einem leeren Raum zu sitzen. Im Minimalismus geht es um besonnene Bescheidenheit, bewusste Einschränkung. Das ist etwas, das man freiwillig macht. Wenn Menschen, die eigentlich Besitz haben möchten, unfreiwillig verzichten, ist das kein Minimalismus, sondern Not, Armut oder Selbstgeißelung. Minimalisten genießen das Leben, sie wollen sich bloß nicht an Besitz klammern.
Was ist dann der Luxus des Minimalisten?
Mit den Mitmenschen zu interagieren. Sie müssen nicht viel einkaufen, um Qualitätszeit mit der eigenen Familie, den Freunden zu verbringen. Ehrenamtliche Tätigkeiten, anderen Leuten helfen, das ist Luxus. Statt sich selbst immer neue Dinge zu kaufen, können sie die Zeit etwa nutzen, um anderen Gutes zu tun, Gesellschaft zu leisten, selber Dinge zu erschaffen, neue Hobbys zu entdecken. Sie müssen nicht immer neue Pullis kaufen, sondern können schauen, ob es nicht Spaß macht, selbst einen zu stricken.
Sehen Sie sich als Missionarin in Sachen Nachhaltigkeit?
Menschen, die nachhaltiger leben möchten, werden von anderen schnell auf ein Podest gehoben. Es wird unterstellt, dass sie sich als Idealperson verkaufen und alles richtig machen. Aber sie zeigen im Grunde nur Wege auf. Niemand ist ein Heiliger, weil er sagt, ich lebe jetzt vegan. Ich bin keine Missionarin - ich habe die Trends zusammengetragen, um zu inspirieren, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger. Die großen Entscheidungen müssen Politik und Wirtschaft fällen. Und diese werden eben von unserem Verhalten beeinflusst.
Anika Neugart: "Simply Green. Von Achtsamkeit bis Zero Waste: Nachhaltige Lebensstile im Faktencheck"; oekom, 24 Euro