Entdeckungsreisen: Die Neugier auf die weite Welt
Der Amerikaner“, schrieb Georg Christoph Lichtenberg in einem seiner sogenannten Sudelbücher, „der Amerikaner, der den Columbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“ Wie immer rückte Lichtenberg mit dieser so leicht dahingeworfenen Bemerkung einen Umstand ins Licht, der sonst gern übersehen wird. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass es die Europäer waren, die den Rest der Welt „entdeckten“. Aber so, als ob es gar nicht anders sein könnte, ist das bis heute unser Blick auf die Weltgeschichte.
Dass gerade die Epoche der Entdeckungen, von Marco Polo bis zu Alexander von Humboldt, besonders fasziniert, in der Jugendliteratur wie in den populären Fernsehmagazinen, ist nicht weiter verwunderlich: Entdeckungsreisen lassen sich als Abenteuergeschichten erzählen. Der Historiker Jürgen Sarnowsky von der Universität Hamburg hat jetzt einen anderen Zugang gewählt. Sein Interesse gilt dem Wandel, den die Perspektive auf die Welt in diesem Prozess durchgemacht hat, und den Motiven, aus denen heraus die „Entdecker“ sich auf den Weg machten.
Neugier wurde von Theologen als Laster gebrandmarkt
Bereits die Vorgeschichte der neuzeitlichen Entdeckungsreisen führt tief in eine zentrale Kontroverse der heutigen Mediävistik hinein: Wurden die Kreuzritter des Mittelalters, als sie sich daran machten, das Heilige Land zu erobern, wirklich vornehmlich von religiösen Motiven geleitet, wie zeitgenössische Chronisten uns das glauben machen wollen? Oder ging es ihnen in der Hauptsache darum, Beute zu machen?
Sarnowsky macht darauf aufmerksam, dass diese Alternative nicht vollständig ist. Neben den Rittern gab es auch die Kaufleute, die – mehr oder weniger friedlich – ihre Geschäfte machten. Und viele tausend fromme Pilger, für die Beutegier eigentlich keine Rolle gespielt haben kann. In den Reiseberichten hat der Hamburger Historiker noch zwei weitere Motive gefunden: Abenteuerlust und Neugier auf fremde Welten.
Zum Beispiel bei dem niederrheinischen Adligen Arnold von Harff. Als der in den 1490er Jahren Ägypten und Palästina bereiste, tarnte er sich als Kaufmann, vermutlich, weil er annahm, ein neugieriger „Tourist“ würde eher der Spionage verdächtigt. Die größere Rolle bei der Erkundung des Orients im späten Mittelalter spielten zweifellos venezianische und genuesische Kaufleute; arabische Quellen bezeugen, dass genuesische Schiffe bereits im 15. Jahrhundert auf dem Indischen Ozean unterwegs waren.
Viele Entdeckungsreisen gingen jedoch vom Heiligen Stuhl aus. Seit dem 12. Jahrhundert machte im Abendland die Nachricht die Runde, irgendwo im Osten gebe es ein mächtiges christliches Reich, womöglich in der Nachfolge der Heiligen Drei Könige aus der Bibel. Dieses Reich des „Priesterkönigs Johannes“ wurde gern mit den Mongolen identifiziert.
Die Illusion hielt sich selbst dann noch, als die verheerenden Angriffe auf Ungarn und Polen eher den Eindruck vermittelten, die Mongolen seien Monster und Menschenfresser. Von 1245 an sandten die Päpste Missionare aus, die mit dem Mongolenherrscher Kontakt aufnehmen sollten; die Hoffnung ging auf einen gemeinsamen Krieg gegen die Muslime.
Der Kaufmannssohn Marco Polo, der Anfang des 14. Jahrhunderts seine Reiseerinnerungen mit dem Buch „Über die Wunder der Welt“ herausbrachte, war eben nicht der einzige Europäer am Hof von Kublai Khan in China. Aber dieses Buch weckte bei seinen Lesern die Neugier auf die fremde Welt. Liest man es heute, wirkt der Verfasser selbst allerdings gar nicht so neugierig. Für die buddhistischen und konfuzianischen Lehren, schreibt Sarnowsky, interessierte er sich kaum; fremdartige Sitten wie die Verkrüppelung von Frauenfüßen oder die Selbstmorde zur Wiederherstellung der eigenen Ehre werden erwähnt, aber nicht richtig eingeordnet.
Die Neugier, die von mittelalterlichen Theologen als Laster verurteilt wurde, konnte sich nur sehr langsam emanzipieren. In Sarnowskys Darstellung erscheinen die Entdeckungsreisen als Paradefall für diesen Prozess, den der Philosoph Hans Blumenberg die Entstehung der „theoretischen Neugier“ nannte.
Hinter den portugiesischen Reiseunternehmungen standen, wie der Forscher betont, sowohl ökonomische als auch politisch-religiöse Motive: die Nachfrage nach den Schätzen des Orients, vor allem Gewürzen, die Gier nach Gold, der Handel mit Sklaven einerseits und die Hoffnung auf christliche Verbündete im Rücken des Islams andererseits. Aber bei manchen dieser Seefahrer eben auch die pure Neugier.
Ein Fall aus dem Jahr 1497 lässt ahnen, mit welcher Naivität die Europäer die fremde Welt betrachteten. Als Inder auf eines der Schiffe des Vasco da Gama kamen und sich sofort vor einem Altarbild mit der Muttergottes und dem toten Jesus Christus niederwarfen, glaubten die Portugiesen ohne Weiteres, sie hätten Christen vor sich. Bei den Hindus wird spiegelbildlich eine ganz ähnliche Naivität vorgelegen haben: Sie fühlten sich an Kultbilder aus ihrer eigenen Religion erinnert. Beide Seiten hielten das, was sich später als Parallele erwies, für eine Identität.
Irgendwann zerschlug sich der Traum vom irdischen Paradies
Von 1519 bis 1521 zeigte die Weltumseglung des Fernão de Magalhães, dass die Kugelgestalt der Erde kein Hirngespinst der Gelehrten war. Aber die alten Träume und Motivationen blieben lebendig. Noch die englischen und französischen Entdecker, die im 17. Jahrhundert einen Weg um Nordamerika herum in den Pazifik suchten, waren nicht bloß Forschungsreisende, sie wollten – wie zuvor Columbus – den Kontakt mit dem sagenhaft reichen Ostasien herstellen.
Und was die religiöse Motivation angeht, die die Entdeckungsreisen seit den Kreuzzügen immer wieder begleitet hat, so scheint z. B. in den Schilderungen des Louis-Antoine de Bougainville von seiner Südseereise (1766-69) unverkennbar der Traum von einem irdischen Paradies durch. Es wird ein schwerer Schlag für solche Fantasien gewesen sein, als sich nach James Cooks Südseereisen in den 1780er Jahren in Europa herumsprach, dass von dem hypothetisch erschlossenen großen Kontinent im Süden der Erdhalbkugel nichts zu finden war.
Darum ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass sich um 1800, am Ende des Zeitalters der Entdeckungen, die Neugier verstärkt auf die Geschichte richtete: auf die Vergangenheit, aber erst recht auf die Zukunft. Nachdem der Traum von einem irdischen Paradies irgendwo draußen in der weiten Welt endgültig ausgeträumt war, richteten sich die Hoffnungen darauf, dieses Paradies irgendwann in der Zukunft selbst verwirklichen zu können.
Jürgen Sarnowsky: Die Erkundung der Welt. Die großen Entdeckungsreisen von Marco Polo bis Humboldt. C. H. Beck, München, 244 Seiten, 19,95 Euro
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